Buddhistische Sozialmoral

  • Ich habe in den letzten Wochen wieder mehr im Pali-Kanon gelesen und finde etwas, das mich stört. Vielleicht lese ich einfach die falschen Stellen :D und die Erfahreneren mögen mir bitte mit Alternativen helfen oder Ideen für eine andere Betrachtung(sebene) aufzeigen.


    Eines der anziehenden Elemente der Lehre für mich ist der Gedanke, daß jeder aufgefordert ist die Teile der Lehre an sich selbst, den eigenen Lebenserfahrungen zu prüfen. Es gibt keine von einer Autorität (von 'oben') aufgedrängten Gedanken, die nicht weiter hinterfragt werden dürfen oder können. Die Entscheidungen über das eigene Verhalten liegen damit beim Einzelnen.


    Menschen sind mehr oder weniger soziale Wesen, es braucht daher Regeln für das Zusammenleben, erwachsen aus einer Sozialmoral. Das Angebot im Buddhismus für eine Leitschnur sind hierbei die Silas. Die ersten 4 für Laien beziehen sich ausdrücklich auf das Zusammenleben. Diese werden an -zig Stellen im Kanon immer wieder erwähnt.


    So, nach dieser Einleitung jetzt mein Problem. Ich finde die Formulierungen einerseits kurz und knackig, anderseits eher lahm :shock: : Du sollst nicht töten, Du sollst nicht Gegebenes nicht nehmen... Sind das für 98% aller Menschen nicht sowieso 'normale' Verhaltensweisen? Mir kommt in der Lehre die positive Formulierung dieser Ideen einfach zu kurz.


    Du sollst nicht töten.. Das ist gut, ich habe bisher niemanden getötet und kann mit keine Situation vorstellen in der dies nötig wird. Ich würde eigentlich auch nur ungern von jemand anderem getötet werden. Trotzdem. Wo bleibt die positive Formulierung? Du sollst dazu beitragen eine Gesellschaft zu schaffen in der jeder sein Potential ausschöpfen kann.... Man kann das auch für die anderen Silas formulieren. Wo bleibt das Positive?


    Spontan fällt mir im Kanon nur die Geschichte ein, wo Buddha einen kranken Mönch wäscht und pflegt. Die anderen Mönche haben sich brav an die negative Formulierung der Regeln gehalten. Sie haben den Kranken nicht (aktiv) umgebracht, sie haben nichts von seinem Besitz entwendet etc. Im Prinzip also formal korrekt.


    An positiv formulierten Regeln gibt es zum Beispiel außerhalb der Silas die Aufforderung zu Dana oder Großzügigkeit, aber auch die wird in der Praxis doch oft auf Dana gegenüber Mönchen oder Einrichtungen ausgelegt.


    Ein paar positive Textstellen würden mir jetzt helfen 8)

  • Lieber fotost,


    eventuell kann das nun folgende aus Shantidevas Bodhicaryavatara Kapitel 7 (Eifer) ein wenig Klarheit und darüber hinaus schaffen.


    (20) Manche Leute könnten entmutigt werden aus Angst,
    Ihr Fleisch opfern zu müssen,
    Aber nur, weil sie nicht verstehen,
    Was oder wann wir geben sollen.

    (21) In unseren früheren Leben, über zahllose Äonen,
    Wurden wir unzählige Male geschnitten, erstochen, verbrannt
    Und wurde uns bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen;
    Aber dieses Elend hat uns nichts gebracht.

    (22) Doch die Entbehrungen, die wir ertragen müssen, um Erleuchtung zu erlangen,
    Sind ohne Belang, wenn wir sie damit vergleichen.
    Es ist, wie wenn man das geringere Leiden einer Operation auf sich nimmt,
    Um viel größeren Schmerz zu verhindern.

    (23) Wenn Ärzte unangenehme medizinische Behandlungen anwenden müssen,
    Um die Menschen von ihren Krankheiten zu heilen,
    Sollte ich einige wenige Unannehmlichkeiten ertragen können,
    Um die vielen Leiden Samsaras zu zerstören.

    (24) Buddha aber, der Höchste Arzt, wendet keine
    Gewöhnlichen Heilverfahren wie diese an;
    Im Gegenteil, er verwendet ausgesprochen sanfte Methoden,
    Um all die großen Krankheiten der Verblendungen zu beseitigen.

    (25) Zu Beginn ermutigt uns Buddha, der Lehrer,
    Geben von Dingen wie Essen zu praktizieren.
    Später, wenn wir uns daran gewöhnt haben,
    Können wir allmählich lernen, unser eigenes Fleisch zu geben.

    (26) Wenn wir schließlich einen Geist erzeugen,
    Der unseren Körper genau wie Essen betrachtet,
    Welche Unannehmlichkeiten sollten wir spüren,
    Wenn wir unser Fleisch weggeben?

    (27) Der Bodhisattva hat Nichttugend aufgegeben und erfährt daher kein körperliches Leiden;
    Und weil er Leerheit ganz klar realisiert, erfährt er kein geistiges Leiden.
    Wir, im Gegensatz dazu, werden von falschen Vorstellungen geplagt,
    Und unser Körper und Geist wird durch nicht-tugendhafte Handlungen verletzt.


    „ Mir hat dieses Kapitel (aus der Leitfaden eines Bodhisattvas) nach sehr aufmerksamen lesen mehr als viel Klarheit ein gebracht.”


    Lebe lange & in Frieden


    _()_ Nomad

  • Moin Fotost,


    Die 5 Silas, so wie ich sie bekommen habe:


    Nicht töten und Leben erhalten
    Nicht nehmen, was mir nicht gegeben ist und Freigiebigkeit üben
    Niemanden missbrauchen und die Würde aller Menschen bewahren
    Gegenüber anderen und mir selbst wahrhaftig sein
    Meinen Geist nicht trüben und Klarheit bewahren


    Du schreibst

    Zitat

    ...ich habe bisher niemanden getötet...


    Bist du da ganz sicher?! Töten heißt Leben nehmen, Lebendigkeit nehmen. Es gibt viele Arten zu töten.
    Töten heißt nicht nur "erschießen". Wie oft töten wir mit Worten? Wie oft töten wir mit dem, was wir sagen und auch mit dem was wir tun, wenn wir jemanden missachten? Wie oft töten wir, mit dem, was wir nicht sagen, wo wir schweigen obwohl wir besser was gesagt hätten?
    Wie oft töten wir mit Blicken oder mit wegsehen?
    Wie oft nehmen wir jemandem seine Lebendigkeit, in dem wir ihn massiv einschränken?


    Und wie oft töten wir uns selbst??!!!



    Diese und ähnliche Fragen kann man sich zu allen Silas stellen. Auch zu den positiven Pendants. Was mache ich, um Leben zu erhalten, Lebendigkeit zu fördern?


    Wo nehme ich, was mir nicht gegeben wird, z.B. an Aufmerksamkeit, Gefühlen, Bestätigung, Respekt, Antworten.........?
    Wie oft will ich unbedingt etwas haben und bekomme es nicht? Und was mache ich nicht alles, um es doch zu bekommen, um jeden Preis.
    Und wie freigiebig bin ich im Gegenzug mit meinen Gefühlen, meiner Aufmerksamkeit, meinem Respekt, meinen Besitztümern.....?


    Und so geht das weiter, mit der Auseinandersetzung mit den Silas.


    Zitat

    Ein paar positive Textstellen würden mir jetzt helfen 8)


    Selber essen macht dick, fotost.
    Du bist für dich verantwortlich, für dein Handeln. Wie sehen deine positiven Formulierungen aus? Und kannst du sie auch leben, entgegen allen Widerständen?


    LG
    Ji'un Ken

    • Offizieller Beitrag
    fotost:

    So, nach dieser Einleitung jetzt mein Problem. Ich finde die Formulierungen einerseits kurz und knackig, anderseits eher lahm :shock: : Du sollst nicht töten, Du sollst nicht Gegebenes nicht nehmen... Sind das für 98% aller Menschen nicht sowieso 'normale' Verhaltensweisen? Mir kommt in der Lehre die positive Formulierung dieser Ideen einfach zu kurz.)


    Die Idee dass diese Moral nicht Produkt eines gesellschaftichen Prozesses ist, sondern von Außen kommt, ist Teil einer Tradition, die Wertesystem religiös legitimiert (Moeses kommt mit einer Tafel vom Berg und präsentiert die Gesetzte). Das ist aber nicht besonders real. Eine Sozialmoral ist immer das Produkt gesellschaftlicher Prozesse.


    Wenn Leute zusammenleben, dann müssen sie aus ihrer Gruppe heraus eine Sozialmoral entwickeln. Wenn es sich dabei um lauter Heilige handelt, werden andere gemeinschaftliche Regeln dabei herauskommen, als wenn es sich um eine gierige Räuberbande handelt die sich einen Ehrenkodex auskbobelt, einer ultrrechten Burschenschaft die sich Aufnahmekriterien ausdenkt oder ein Geheimdienst der sich überlegt wann jetzt genau Waterboarden angemessen ist und wann nicht. Ein Sozialmoral kann nur so gut wie die Gruppe sein, deren kollektiven Wollen sie Ausdruck gibt. Ein Kloster wird mit der Sozialmoral einer Räuberbande nicht glücklich sein und auch eine Räuberbande wird sich mit dem Ehrenkodex eines Klosters schwer tun. Die meisten Gesellschaften befinden sich irgendwo dazwischen.


    Stimmt eine Sozialmoral nicht mit dem Willen und der Fähigkeit sie zu Leben überein, ist Heuchelei und Bigotterie die logische Folge. In Tibet versuchte man mal die Todesstrafe mit dem buddhitischen Gebot des Nicht-Tötens zu kombinieren. Man band den betreffenden einfach am Boden fest und lies die Elemente die unheilsame Aufgabe des Tötens verrichten, ohne dass sich jemand schlechtes Karma anhäuft.

  • Hieß es nicht mal von Buddha sogar: "Ehre alles Leben"?.Das kannst du ja positiv sehen zu du sollst nicht töten.
    Und wenn das so ist-haben wir alle schon getötet.In jedem Leben.Selbst das Erschlagen einer lästigen Mücke ist töten.


    Um sowas zu entgehen muss man wohl Nirvanee werden--dasitzen,nur meditieren,alles anata sehen und sich nicht weiter mehr um was scheren...nicht um das was andere betrifft.



    Om Patita

  • void:

    ..
    Die Idee dass diese Moral nicht Produkt eines gesellschaftichen Prozesses ist, sondern von Außen kommt, ist Teil einer Tradition, die Wertesystem religiös legitimiert (Moeses kommt mit einer Tafel vom Berg und präsentiert die Gesetzte). Das ist aber nicht besonders real. Eine Sozialmoral ist immer das Produkt gesellschaftlicher Prozesse.


    Wenn Leute zusammenleben, dann müssen sie aus ihrer Gruppe heraus eine Sozialmoral entwickeln.
    ..



    Danke void,


    darin steckt ein wichtiger Nebengedanke zu meiner Fragestellung auf den ich nicht gekommen bin.


    Die Reden Buddhas richteten sich natürlich an alle, konkret aber saßen meist Mönche oder an interessierte Laien mit Vorkenntnissen bei ihm. Hätten nicht gerade bei solchen Zuhörern die aktiven, positiven Komponenten einer Ethik viel intensiver betont sein müssen?


    Über die anderen Antworten (danke dafür) werde ich länger nachdenken müssen, aber dieser Gedanke macht mir noch deutlicher woher mein Unbehagen kommt.




    (Ist Moses nicht mit zwei Tafeln von Berg gekommen? ;) )

  • Hi fotost,
    ich kann das nachvollziehen, im Palikanon steht nicht viel von sozialem Engagement.
    Da geht es um Befreiung und den Weg dorthin, jeder kann ihn gehen.
    Aus dem Mahayana kommt die Überlegung, dass man seine Anhaftungen am besten loslassen kann,
    wenn man nicht um sich selbst, auch in der eigenen Suche nach Befreiung, kreiselt, sondern sich um
    andere bemüht. Mitgefühl, das man nur rein und vollkommen entwickeln kann, wenn man auch
    Weisheit entwickelt, steht da im Zentrum.
    Ich denke, dass wir einfach (oder vielleicht gar nicht so einfach) den für uns passenden Weg finden
    müssen, wie wir Weisheit und Mitgefühl entwickeln, welche Methoden bei einem selbst am besten
    geeignet sind.
    _()_ ekkhi

    • Offizieller Beitrag
    fotost:

    [Die Reden Buddhas richteten sich natürlich an alle, konkret aber saßen meist Mönche oder an interessierte Laien mit Vorkenntnissen bei ihm. Hätten nicht gerade bei solchen Zuhörern die aktiven, positiven Komponenten einer Ethik viel intensiver betont sein müssen?


    Ich glaube Buddha dachte eher in Begriffen von "Abbauen" als von "Aufbauen", vom "Weglassen" als vom "Hinzufügen". Anstatt sich zu fragen, wie man das Glück vermehrt, fragt er wie man das Leid reduziert. Anstatt zu frage, wie man die Tugend fördert, fragt er wie man die Verblendungen reduziert. Ansatt zu fragen, wie man die Weisheit findet, fragt er wie man den Unwissenheit entkommt. Anstatt zu fragen, wie man das Pradies erreicht, fragt man wie man Samsara entflieht.


    Viele andere Religionsgründer haben positive Formulierungen bevorzugt: Wie schaffen wir eine gerechter Gesellschaft? Wie erreichen wir das Glück? Wie schaffen wir Gerechtigkeit und Harmonie? Indem man so auf positive Ziele hin denkt, kann man viel bewegen. Man denke nur an die christliche Nächstenliebe und die diversen sozialen Institutionen, die sie hervorgebracht hat. Die christliche Idee , an einer besseren, hermonischeren, brüderlichen Zukunft mitzuarbeiten ( Heilsgeschichte) fand ihren Widerhall dann in den säkularen aufklärerischen Utopien nach der französischen Revolution.


    Aber man mussa uch an die Schatten denken, die diese Werke des Aufbaus immer mit sich herzogen. Wer etwas tut bewirkt etwas, aber weil man fehlbarist, auch oft etwas Schlechtes. Die Kreuzzüge und Hexenverfolgungen und Guillotinen, die dem Bemühen um Mitgefühl, Gerechtigkeit folgen. Die soziale Ausgrenzung die mit dem sozialen Zusammenhalt verwoben ist. Den Müllplaneten den unsere Wirtschafts-Wachstumsideologie produziert.


    Indem Buddha "negativer" und "unkonstruktiver" dachte, mobilisiert er weniger. Griff weniger in die Gesellschaft ein. Was je nach dem schlechtere oder positivere Ausiwirkungen hat.


    Und ja, es waren zwei Steintafeln.

  • Dein Unbehagen ... darüber könntest du mal kontemplieren, was es da in dir ist, das etwas anders haben will, als es ist (nämlich die Lehre soll bitte anders aussehen - tut sie aber nicht ;))...

  • Zum Töten:
    wie schnell ist eine Spinne getötet, weil sie "eklig" ist?


    Ich habe es so verstanden:
    keinem schaden, wenn möglich anderen helfen.


    Durchaus anspruchsvoll.


    Gruß,
    Holger

  • Mascha:

    Dein Unbehagen ... darüber könntest du mal kontemplieren, was es da in dir ist, das etwas anders haben will, als es ist (nämlich die Lehre soll bitte anders aussehen - tut sie aber nicht ;))...


    Liebe Grüße Meike,


    ok, die Lehre ist gut genug für mich 8)


    Wie so oft hilft es (wenigstens mir) manchmal, eher einen Schritt zurück zu gehen als zwei nach vorn in die falsche Richtung.


    Bei den Kernideen des achtfachen Pfades gibt es (auch für mich) genügend positive und anwendbare Beschreibungen richtigen Verhaltens. Also neuer Anlauf :lol: Ich bin schon jetzt gespannt, wie sich die Texte um die Silas herum beim nächsten Mal lesen.


    Es reicht ja auch, wenn in einer Bedienungsanleitung an einer zentralen Stelle steht, wie man die Batterien austauscht - muss ja nicht auf jeder Seite wiederholt werden :idea: