Simo:
Meiner Ansicht nach ist das eine überaus inkonsequente Deutung der Vier Edlen Wahrheiten (der 4 Grundannahmen).
Liebe Grüße.
"Wenn irgendein Glaubenssatz als grundlegend für Buddhas Lehre betrachtet werden kann, dann dürften es die vier edlen Wahrheiten sein, wie sie in der Ersten Lehrrede formuliert worden sind, von der angenommen wird, dass sie im Wildpark bei Isipatana (Sarnath) verkündet worden ist, nicht lange nach seinem Erwachen in Uruvelā (Bodh Gaya). Doch wenn wir den Text in der Fassung lesen, in der er uns überliefert wurde (es gibt siebzehn Versionen in Pali, Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch), erscheint er auf den ersten Blick fest in der Erlösungslehre des Buddhismus 1.0 verwurzelt zu sein. Das Leiden in Form von Geburt, Krankheit, Altern und Tod (die erste edle Wahrheit) hat seinen Ursprung im Verlangen (die zweite edle Wahrheit). Nur wenn dieses Verlangen durch die Erfahrung von nibbāna (die dritte edle Wahrheit) zu einem Halt gebracht werden kann, wird das Leiden, das durch Verlangen verursacht wird, gleichfalls zu einem Ende kommen. Und der einzige Weg, diese endgültige Befreiung vom Leiden zu verwirklichen, besteht darin, dem edlen achtfachen Pfad zu folgen (die vierte edle Wahrheit). Das Ende vom Leiden ist deshalb nur zu erreichen, indem das Verlangen beendet wird, welches das Rad der Wiedergeburt antreibt. In der Tat verkündet der Buddha gegen Ende der Rede, dass «dies die letzte Geburt» sei. So lange man in dieser Welt als verkörpertes Lebewesen verbleibt, ist das Höchste, das man erreichen kann, eine gewisse Linderung des Leidens. Denn, damit Leiden tatsächlich aufhört, muss man den Prozess der Wiedergeburt überhaupt anhalten.
Eine solche Lesart der Lehrrede würde anscheinend wenig Raum für eine säkulare Auslegung des Textes übrig lassen, wenn überhaupt. Denn diese Welt der Geburt, Krankheit, Altern und Tod, welche unser saeculum ausmacht, ist genau das, was notwendigerweise zu einem Ende gebracht werden muss, wenn wir jemals echte Erlösung oder Befreiung erreichen wollen. Orthodoxer Buddhismus zeigt sich hier im Grunde der indischen asketischen Tradition verpflichtet, die das Leben in dieser Welt als etwas betrachtet, das jenseits von Erlösung ist und dem entsagt werden soll. Der wichtigste Wert der menschlichen Existenz besteht darin, dass sie im Ablauf der unendlichen Runde der Wiedergeburten den günstigsten Zustand darstellt, um geboren zu werden, weil sie eben die besten Bedingungen bietet, der Wiedergeburt überhaupt zu entfliehen. Und das ist nicht nur die Sicht des «Hinayana»-Buddhismus. Die «Mahayana»-Traditionen sagen genau das gleiche, der einzige Unterschied besteht darin, dass der mitfühlende Bodhisattva so lange auf seine oder ihre endgültige Befreiung von der Wiedergeburt verzichtet, bis nicht zuerst auch alle anderen fühlenden Wesen sie erreicht haben.
Dennoch, bei genauerer Analyse dieser Lehrrede treten gewisse Ungereimtheiten in der Struktur des Textes zu Tage. Die Erste Lehrrede kann nicht als wortwörtliche Niederschrift von dem, was der Buddha im Wildpark lehrte, behandelt werden, sondern als ein Dokument, das sich über eine unbestimmte Zeit entwickelt hat, bis es die Form erreichte, in der es heute in den Kanons der verschiedenen buddhistischen Schulen vorgefunden wird. An diesem Punkt kommt uns die moderne, historisch-kritische Wissenschaft zu Hilfe, als ein Mittel, einige der altehrwürdigen Ansichten buddhistischer Orthodoxie zu erschüttern.
6.
Der britische Philologe K.R. Norman ist einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der «Mittleren Indo-Ᾱryan Prakrits», d.h. der gesprochenen Sprachen (Prakrits), die aus dem Sanskrit abgeleitet sind, und die nach der klassischen Periode und vor der Neuzeit in Indien verwendet wurden. Zu diesen gehört Pali, die Sprache, in der die Lehrreden, welche dem Buddha zugeschrieben werden, in der Theravada-Schule erhalten sind. In einer aus 1992 stammenden Arbeit unter dem Titel «The Four Nobles Thruths» bietet Norman eine detaillierte philologische Analyse der Ersten Lehrrede an und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass «die früheste Fassung dieses Sutta das Wort ariya-saccaṃ (edle Wahrheit) nicht enthalte» (Norman 2003: 223). Aus grammatikalischen und syntaktischen Überlegungen zeigt er auf, wie der Ausdruck «edle Wahrheit» unfachmännisch zu einem späteren Zeitpunkt als dem der ursprünglichen Abfassung in den Text interpoliert worden war. Aber weil kein solcher Originaltext bis auf unsere Tage überliefert ist, können wir nicht wissen, was er wirklich aussagte. Alles was vernünftigerweise gefolgert werden kann, ist, dass statt der Rede von vier edlen Wahrheiten, der Text lediglich von «vier» sprach.
Der Begriff «Edle Wahrheit» wird so sehr als selbstverständlich angenommen, dass wir seinen polemischen, sektiererischen und arroganten Ton gar nicht bemerken. Alle Religionen behaupten, dass das, was sie und nur sie allein lehren, sowohl «edel» als auch «wahr» ist. Dies ist die Art von Rhetorik, wie sie im Religionsgeschäft verwendet wird. Man kann sich leicht vorstellen, wie im Laufe der Jahrhunderte nach Buddhas Tod seine Anhänger, im Laufe des Sich-gegenseitig-übertrumpfen-Wollens der konkurrierenden Sekten im alten Indien, zunehmend überhöhte Ansprüche bezüglich der Überlegenheit der Doktrinen ihres Lehrers machten, was in der Einführung des Ausdrucks «edle Wahrheit» resultierte, um das Dharma zu privilegieren und von dem, was ihre Mitstreiter lehrten, zu unterscheiden.
Eine Implikation von Norman’s Entdeckung ist, dass der Buddha sich möglicherweise überhaupt nicht mit Fragen der «Wahrheit» beschäftigt hat. Sein Erwachen dürfte wenig damit zu tun gehabt haben, eine wahrhaftige Erkenntnis der «Realität» zu gewinnen, oder ein privilegiertes Verständnis darüber, wie die Dinge wirklich sind. Zahlreiche Passagen im Kanon bezeugen, wie sehr der Buddha sich weigerte, die großen metaphysischen Fragen anzusprechen: Ist die Welt ewig, nicht ewig, endlich, unendlich? Sind Körper und Geist dasselbe oder unterschiedlich? Gibt es eine Existenz nach dem Tod, oder nicht, oder keines von beiden, oder beides?2 Statt sich in solchen Diskussionen zu verlieren, bestand er darauf, einen therapeutischen und pragmatischen Weg zu enthüllen, welcher die Kernfrage des menschlichen Leidens betraf. Er erkannte, dass man endlos über die Wahrheit oder Falschheit von metaphysischen Behauptungen diskutieren könnte, ohne jemals zu einer endgültige Entscheidung zu gelangen, und darüber versäumen würde, mit der weit dringenderen Angelegenheit der eigenen Geburt und des Todes, sowie der der anderen, klarzukommen.
Sobald die verführerische Vorstellung von «Wahrheit» den Diskurs des Dharma zu durchdringen beginnt, entsteht die Gefahr, dass der pragmatische Schwerpunkt der Lehre durch spekulative Metaphysik ersetzt wird, und Erwachen wird so als das Erreichen eines inneren Geisteszustandes gesehen, der irgendwie mit einer objektiven metaphysischen «Realität» übereinstimmt. Diese Tendenz wird dann noch ausgeprägter, wenn «Wahrheit» weiter qualifiziert wird, entweder als eine «absolute» (paramattha) oder als eine nur «relative» (samutti) Wahrheit. Obwohl diese Zwei-Wahrheiten-Lehre von zentraler Bedeutung für das Denken aller buddhistischen Orthodoxien ist, kommen die Begriffe «absolute Wahrheit» und «relative Wahrheit»nicht ein einziges Mal im den Sutta oder Vinaya Pitakas (Körbe) des Pali Kanons vor. Doch für die meisten buddhistischen Schulen – einschliesslich des Theravada – wird Erleuchtung heute als das Gewinnen eines direkten Einblicks in die Natur irgendeiner ultimativen Wahrheit verstanden.
Dieses Privilegieren von «Wahrheit», würde ich sagen, ist einer der wichtigsten Indikatoren dafür, wie der Dharma allmählich von einer befreienden Praxis des Erwachens in das religiöse Glaubenssystem namens Buddhismus transformiert wurde.
7.
Öffne ein einführendes Buch über Buddhismus und du wirst üblicherweise auf den ersten paar Seiten eine Aufzählung der vier edlen Wahrheiten finden. Ausnahmslos werden sie in der Form von vier Aussagen vorgestellt werden, ungefähr wie folgt:
1. Leben ist Leiden.
2. Ursprung des Leidens ist Verlangen.
3. Beendigung von Leiden ist nibbāna.
4. Der edle achtfache Pfad ist der Weg, der zur Beendigung des Leidens führt.
Genau durch die Art und Weise, in der diese Information meistens vorgestellt wird, wird der Leser herausgefordert zu überlegen, ob diese Aussagen wahr oder falsch sind. Am Anbeginn jeden Engagements für das Dharma erfährt man sich selber als Spieler des Sprachspiels «Auf der Suche nach der Wahrheit». Die unausgesprochene Annahme besteht darin, dass du dann qualifiziert bist, ein Buddhist zu sein, wenn du glaubst, dass diese Aussagen wahr sind, während du es nicht bist, wenn du sie als falsch erachtest. So wird man stillschweigend aufgefordert, den nächsten Schritt zu tun und eine Unterscheidung zwischen «Gläubiger» und «Ungläubiger» zu bekräftigen, d.h. zwischen denen, die den Zugang zur Wahrheit erlangt, und denen, die ihn nicht erreicht haben. Dies führt die Art von Trennung ein, die letztendlich ebenso zu kultischer Solidarität führen kann als auch zu Hass gegen andere, die nicht die eigenen Ansichten zu teilen. «[W]enn das Wort Wahrheit geäußert wird», bemerkte der italienische Philosoph Gianni Vattimo, «dann wird auch ein Schatten von Gewalt geworfen».3 Aber, falls Mr. Norman Recht hat, dann dürfte der Buddha seine Ideen überhaupt nicht im Sinne von «Wahrheit» dargelegt haben.
Jede dieser Aussagen ist ein metaphysisches Statement, in seiner Art nicht unterschieden von «Gott ist die Liebe», «Schöpfung entsteht durch den Odem des Einen», «Glückseligkeit ist ewige Verbindung mit Brahman», oder «Du kommst zum Vater nur durch mich». Vielleicht wegen der eher psychologisch klingenden und nicht-deistischen Begriffswelt des Buddhismus (ganz zu schweigen von der weit verbreiteten Überzeugung, Buddhismus sei «rational» und «wissenschaftlich») mag man die offensichtlich metaphysische Natur der Behauptungen der vier edlen Wahrheiten nicht bemerken, bis man beginnt, sie entweder zu beweisen oder zu widerlegen.
«Verlangen ist die Ursache von Leiden». Wie ist dann Verlangen die Ursache von Alter? Wie soll Verlangen die Ursache der Schmerzen eines Babys sein, das mit zystischer Fibrose geboren wurde? Wie ist Verlangen die Ursache dafür, in einem Unfall von einem Lastwagen überfahren zu werden? Ich habe festgestellt, dass heutige buddhistische Lehrer, die sich vielleicht mit der Metaphysik von kamma und Wiedergeburt nicht so wohl fühlen, oft versuchen werden, dies psychologisch zu erklären. «Verlangen ist natürlich nicht die Ursache von physischem Schmerz des Alters oder des zerquetscht Werdens unter den Rädern eines 3,5 Tonnen schweren Fahrzeuges», werden sie sagen. «Aber es ist durch das Verlangen, diese Dinge mögen nicht passieren, und durch das Unvermögen, das Leben so zu akzeptieren, wie es uns begegnet, dass wir uns selber unnötigen mentalen Kummer bereiten, zusätzlich zum physischen Schmerz.» Es ist offensichtlich, dass wir uns selbst oft auf diese Weise unnötigen seelischen Schmerz bereiten, und eine Anzahl von Passagen im Pali Kanon kann zitiert werden, um solch eine Lesart zu stützen. Doch wenn der Buddha in der Ersten Lehrrede erklärt, was er unter dukkha versteht, dann beschreibt er es nicht als «unnötigen seelischen Schmerz», sondern als Geburt, Krankheit, Alter und Tod, sowie die «fünf Bündel des Anhaftens» selbst. In anderen Worten: die Gesamtheit unserer existenziellen Situation in dieser Welt. Wenn wir den Text so nehmen, wie er dasteht, dann ist die einzige vernünftige Interpretation der Aussage «Verlangen ist die Ursache von Leiden» die traditionelle: Verlangen ist die Ursache von Leiden, weil Verlangen das ist, was verursacht, dass man sich Taten hingibt, die dazu führen, dass man geboren, krank und alt wird und stirbt. Aber natürlich ist dies Metaphysik: eine Wahrheitsbehauptung, die weder überzeugend bewiesen noch widerlegt werden kann.
In meinem Buch Buddhismus für Ungläubige (1997) habe auch ich den Fehler begangen, dukkha im Sinne von Verlangen zu interpretieren, welches dieses verursachen soll. Ich überlegte, wenn dukkha von Verlangen herrührt, dann muss es sich auf den seelischen Schmerz beziehen, der durch den Griff des Verlangens erzeugt wird. Deshalb übersetzte ich dukkha als «seelischen Schmerz» [in der deutschen Übersetzung des Buches wurde das englische Wort «anguish» mit «Angst» übersetzt, was den Übersetzern dieses Textes aber als besonders unpassend erscheint]. Ungeachtet dessen, ob Verlangen solchen seelischen Schmerz hervorruft oder nicht, das ist nicht wie dukkha in der Ersten Lehrrede dargelegt wird. Als ein Ergebnis dieser Art Interpretation wird dukkha als ein rein subjektives Problem gesehen werden, das durch korrekte Anwendung der Techniken von Achtsamkeit und Meditation «gelöst» werden kann. Denn dukkha ist genau dasjenige Leiden, dass unnötigerweise zu den unausweichlichen Schmerzen und Frustrationen des Lebens hinzugefügt wird. Diese psychologische Lesart dreht die Praxis des Dharmas zusehends nach innen, weg von der Sorge um ein allgegenwärtiges dukkha des Lebens und der Welt, hin zu einer exklusiven, sogar narzisstischen Angelegenheit mit subjektiven Gefühlen von Mangel und Kummer.
8.
Der Begriff «Wahrheit» ist so sehr in unserem Diskurs über Religion verankert, und wird weiter noch verstärkt durch die dem Buddhismus eigene Darstellung der Lehre, dass man es schwierig, sogar bedrohlich, finden könnte, zu «verlernen», (nur) in dieser Weise über das Dharma zu denken und zu sprechen. Doch dieses Verlernen ist genau das, was getan werden muss, wenn wir den Übergang von einem glaubens-basierten Buddhismus (Version 1.0) zu einem praxis-basierten Buddhismus (Version 2.0) unternehmen wollen. Wir müssen uns bis zu dem Punkt trainieren, an dem unsere erste Reaktion beim Hören oder Lesen eines Textes aus dem Kanon nicht mehr «ist das wahr?», sondern «funktioniert das?» ist.
Gleichzeitig müssen wir auch eine kritische Analyse der Texte selbst unternehmen, um, so gut wir aus dieser zeitlichen Entfernung noch können, die zentralen Begriffe und narrativen Strategien zu entdecken, die eine bestimmte Passage oder Lehrrede prägen. Wenn wir die Worte «edle Wahrheit» aus dem Satz «vier edle Wahrheiten» subtrahieren, bleibt bloß das Wort «vier» übrig. Und die knappste Formulierung der vier, die überall in den buddhistischen Traditionen gefunden wird, ist folgende:
Leiden (dukkha)
Entstehen (samudaya)
Aufhören (nirodha)
Weg (magga)
Sobald der Satz des Epithetons «edle Wahrheit» beraubt und nicht mehr in behauptender Sprache formuliert wird, gelangen wir zu den vier Grundpfeilern, auf denen sowohl Buddhismus 1.0 als auch Buddhismus 2.0 aufgebaut sind. Genau so wie es vier Nukleobasen (Cytosin, Guanin, Adenin und Thymin) gibt, aus denen DNS, die Nukleinsäure zusammengebaut ist, welche die genetischen Informationen für alle lebenden Organismen enthalten, so könnte man sagen, dass «Leiden», «Entstehen», «Aufhören» und «Pfad» die vier Nukleobasen sind, die das Dharma, den Korpus an instruktiven Ideen, Werten und Praktiken ausmachen, die alle Spielarten des Buddhismus entstehen lassen." Stephen Batchelor