Mitgefühl statt Abgrenzung oder umgekehrt?



  • Hallo Sabeth,


    mir kommt ganz spontan die Vermutung, dass es sich bei dem Mann um einen Flüchtling handelt, dessen Duldung möglicherweise abgelaufen ist und der von Abschiebung bedroht ist (ich habe vor einigen Jahren einen Flüchlting begleitet und unterstützt, bei dem wir nach einem "elenden Prozess" die Aufenthaltsgenehmigung erwirken konnte. Lange Geschichte, anderes Thema!)


    Da erschließt sich für mich auch der Sinn, warum und weshalb der die Obdachlosenhilfe nicht in Anspruch nimmt.
    Würden da Kontrollen stattfinden, könnte er möglicherweise "von jetzt auf gleich" abgeschoben werden, falls er ein Papier mit sich führt, das ausweist, dass die Duldung erkennbar abgelaufen ist.


    Das einzige, das Du tun kannst ist, dass Du ihn fragst, ob er ein Flüchtling ist, der von Abschiebung bedroht ist.
    Wenn er das bejaht, kannst Du ihm allenfalls die Adresse einer Flüchtlingsberatungsstelle heraussuchen:
    da kann ich Dir versichern, dass die Mitarbeiter unter Verschwiegenheitspflicht stehen.


    Wobei ich davon ausgehe, dass er schon mit entsprechenden Stellen Kontakt hatte.
    Einen Versuch könntest Du aber trotzdem wagen, falls Du Dich innerlich drauf einlassen kannst.


    Aber trotz seiner möglichen Hintergründe, berechtigt ihm das nicht zum Lungern vor Deiner Wohnungstüre.
    Auch in der Flüchtlingsberatung haben wir "Helfer" gelernt, klare Grenzen zu setzen und glaub' mir: wir bringen genug Einsatz, aber man muss nicht alles erdulden und was ich gelernt habe ist, dass es absolut ein Ding der Unmöglichkeit ist, "alle zu retten".



    Ich brauche z.B. in meinem Job (Kinder- und Jugendhilfe) Möglichkeiten zu meinem eigenen Schutz, zu meiner eigenen Abgrenzung, dass ich "bei mir bleiben" kann und somit meiner Energie bewahren kann, wenn meine Hilfe gefordert wird.
    Ohne Selbstfürsorge und ohne Abgrenzung könnte ich auf dem Sektor nicht tätig sein.

    Herzliche Grüße von der


    Kirschblüte



    Der vielleicht größte Vorteil des Ruhms besteht darin, daß man ungestraft die größten Dummheiten sagen darf.


    André Gide

  • Wenn ich die Aussagen bisher richtig erfasse...
    Es geht Sabeth darum: Nicht weiter zu helfen. Das hat sie bisher getan. Ihre Toleranzgrenze ist verständlicherweise erreicht. Sie möchte diese Person nicht immer und immer wieder vor der Türe vorfinden. Durch ihre bisherige Hilfe und Verständnis, hat sie aber zu der gegenwärtigen Situation, aus Mitgefühl, beigetragen.
    Ihr Konflikt besteht anscheinend jetzt darin, aus der Bitte gegenüber dem Mann: "Warum suchen Sie sich nicht eine andere Schlafstelle?" Eine klare Aufforderung zu formulieren: "Steh auf und geh!"
    "Steh auf und geh!", ist eine imperative Formulierung und dieser Situation angemessen.
    Buddha lehrte angemessen zu handeln. Der Buddha sagt: "Harte Rede meidet der Asket" -
    "Verzieh Dich endlich, Du arbeitsloser und wohnungsloser Penner!" Das wäre eine unangemessene und herablassende Äußerung.
    Der von Buddha gelehrte mittlere Weg ist demnach, eine angemessene Handlungsweise auf eine bestehende Situation.
    Dieser Situation ist angemessen: "Steh auf und geh!"


    (Zitat aus: Dhammapada - die Weisheitslehren des Buddha, Dr. Munish B. Schiekel)

  • Hallo Markus,


    danke für Deinen m.E. sehr sinnvollen Beitrag.
    Was mir eben (noch) nicht ganz klar war, war die Frage:


    Zitat

    Es geht Sabeth darum: Nicht weiter zu helfen


    Ich hatte da noch eine Art "Zwiespältigkeit" hineininterpretiert, daher hatte ich noch den Vorschlag mit der Beratungsstelle für Flüchtlinge mit eigebunden (als ich eben auch gelesen hatte, dass der Mann Afrikaner ist. An den Flüchtlings-Aspekt hatte ich noch gar nicht gedacht).


    Unter diesem Aspekt:


    Zitat

    Ihr Konflikt besteht anscheinend jetzt darin, aus der Bitte gegenüber dem Mann: "Warum suchen Sie sich nicht eine andere Schlafstelle?" Eine klare Aufforderung zu formulieren: "Steh auf und geh!"


    gehe ich aber auch völlig konform mit dem, was Du schreibst.

    Herzliche Grüße von der


    Kirschblüte



    Der vielleicht größte Vorteil des Ruhms besteht darin, daß man ungestraft die größten Dummheiten sagen darf.


    André Gide

  • Sabeth:

    Liebe Menschen, die mir hier alle so freundlich geantwortet habt - ich danke euch für alle Hinweise und Ideen, wie ihr mit der Situation umgehen würdet, und ich fand einige Beiträge, in denen ich für mich las: "Ich DARF mich abgrenzen" sehr, sehr tröstlich.


    Aber insgesamt geht es mir tatsächlich gar nicht (oder gar nicht mehr) so sehr um "Was mache ich nur mit diesem Mann", sondern um das, was sich da eigentlich in mir abspielt, in Bezug auf ihn. Ich hoffe sehr, ihr kommt euch nicht veräppelt vor, weil ich im Eingangsposting um Rat gebeten habe. Ich merke gerade, dass das missverständlich ist; ich meinte dort schon Rat in Bezug auf meine innere Zerrissenheit/ Widersprüchlichkeit.


    Viele Grüße
    Sabeth


    ein interessanter Aspekt ist auch der Umgang mit Nachbarschaft.


    Es ist jetzt schon 22 Jahre her, da lebte ich in einer Mietwohnung am Ende eines Ganges. Rechts und links von meiner Eingangstüre (und Klofenster) befanden sich die gegenüberliegenden Wohnungen einer kroatisch sprechenden Familie, Großeltern, Eltern und Kinder. Am Tag standen die Türen immer offen. Sehr oft, wenn ich kam und ging oder die Toilette benutzte, hatte ich daher so ein Gefühl, als würde ich mich in einer fremden Küche befinden. In dumpfen Groll äußerte ich einmal die Bitte, die Türen doch geschlossen zu halten, was aber von Seiten der Großeltern (und Hausmeister) nicht geschah.


    Dies und andere Faktoren (sehr viel Freizeit, ich war unglücklich allein stehend, keine gemeinsame Sprache) führten dazu, dass ich diese Wohnsituation über die Maßen unerträglich empfand und mich zunehmend selbst quälte. Ich erinnere mich noch, wie ich öfter zu meiner Wohnungstür schlich und durch den Spion lugte, ob die Türen draußen geschlossen wären! Ich würde daher sagen, dass ich mich ob des „unfreiwilligen Familienanschlusses“ ein wenig paranoid fühlte.


    Das wären also ein Aspekt von Nähe und ein Nachempfinden, das freilich mit mir zu tun hat.

  • Zitat

    Rechts und links von meiner Eingangstüre (und Klofenster)


    Kann ich gut nachvollziehen. Da bekommt man das Gefühl, man würde beim Klogang beobachtet.
    Ich kennen niemanden, der sich dabei gerne beobachten lässt. Und auch viele Tierarten sind dabei gerne unbeobachtet.
    In Japan hat man sogar Geräusche, damit nicht mal das Plätschern des Wassers von anderen gehört werden kann.
    In unserer Wohnung kann ich meinen Nachbarn beim Pinkeln zuhören. Zum Glück bin ich nicht so empfindlich und er benutzt meist sein anderes Klo, aber ich könnte deshalb Mietminderung bekommen.


    Intimsphäre ist wichtig für unser Wohlbefinden. Wenn die Grenze ständig überschritten wird, werden Menschen krank.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Hallo Doris,

    Doris Rasevic-Benz:

    Intimsphäre ist wichtig für unser Wohlbefinden. Wenn die Grenze ständig überschritten wird, werden Menschen krank.


    ist das in Stein gemeisselt?
    Oder ist Intimsphäre wichtig für Dein Wohlbefinden und wenn Deine Grenze ständig überschritten wird, wirst Du krank?
    Oder spielt die spirituelle Reife eventuell auch eine Rolle, also, wie eine/r mit dem, was außen passiert innen umgeht?


    Gruß,
    Mirco

  • Zum Reifeprozess gehört für mich auf jeden Fall, dass ich mir (und anderen) nicht vormache, wie weit entwickelt ich mich glaube und daher meine (psychischen) Grenzen akzeptiere und auch in mein Leben integriere.
    Gewalt gegen die Psyche ("Ich bin ein grenzenlos guter Mensch, weil ich mich schon so hoch entwickelt glaube und deshalb darf jeder alles mit mir machen!") halte ich nicht für sehr förderlich im Bezug auf den Reifeprozess.

    Herzliche Grüße von der


    Kirschblüte



    Der vielleicht größte Vorteil des Ruhms besteht darin, daß man ungestraft die größten Dummheiten sagen darf.


    André Gide