Weiter lautet der sehr interessante Text zum Madhyamaka:
In der Shentong -, die "Leer von Anderem"- Schule wird gelehrt, daß alle Phänomene von Samsara und Nirvana grundsätzlich von der Natur des Geistes sind, daß sie also der Geist selbst sind. Es wird erklärt, daß die Natur unseres Geistes Leerheit und Bewußtheit ist, und daß diese beiden seit jeher untrennbar voneinander sind, eine Einheit bilden. Jedes Wesen hat diesen Geist, der Leerheit und Bewußtheit untrennbar ist. Es wird erklärt, daß es offensichtlich ist, daß jedes Lebewesen ganz natürlicherweise ein gewisses Maß an Mitgefühl und Intelligenz hat. Dies ist ein Hinweis darauf, daß der Geist zugleich leer und bewußt ist und genau dies ist die Buddha-Natur, das Potential für Buddhaschaft, das jedem Wesen innewohnt.
Wie kommt es dann dazu, daß wir die Illusion der bedingten Existenz erleben, wenn doch alle Wesen diese Buddha-Natur haben? Die Erklärung zu dieser Frage wird an Hand von drei Punkten gegeben: Das "Konzepthafte", das "Abhängige" und das "Vollkommene".
Das "Konzepthafte" beschreibt die Art und Weise, wie und warum wir unsere Illusion erfahren: Die Gesamtheit der äußeren Phänomene erscheint uns aufgrund der Gewohnheitstendenzen in unserem Geist als wirklich, obwohl sie nicht wahrhaft existent sind. Aufgrund dieser Tendenzen haben wir den Eindruck, daß die Phänomene außerhalb wirklich existent sind.
Das "Abhängige": Hier wird die Erklärung gegeben, daß unser Geist von Natur her "Klares Licht" ist, oder in anderen Worten - daß der Geist die Einheit von Raum und Bewußtheit ist. (...)
Überlegungen dazu:
Zunächst wird über die Philosophie der Shentong Schule gesagt, dass demnach alle Phänomene von der Natur des Geistes seien. Sicher lässt sich nicht bestreiten, dass unser Geist bestimmt, wie uns jegliche Phänomene erscheinen. Allerdings meint der Begriff Phänomen per Definition nur die Dinge, die wir im Bewusstsein haben.
Dass die einfachsten Lebewesen schon „fühlen“, unterscheiden, keine leblosen Automaten sind, gibt einen Hinweis, dass die Natur des Geistes schlichte Bewusstheit ist. Diese ist im existentiellen Sinn als leer zu interpretieren. Auch spricht der Autor nun von „Buddha-Natur“, die sich offenbar also auf die grundlegende Eigenschaft von Lebewesen bezieht oder daraus einen Hinweis gewinnt.
Wie kommt es zum Erleben der bedingten Existenz, die der Autor an dieser Stelle als „Illusion“ charakterisiert? Dafür nennt er drei Aspekte.
Es geht einmal um das „Konzepthafte“ des Geistes. Dieses bedeutet: Die Gesamtheit der äußeren Phänomene erscheint uns aufgrund der Gewohnheitstendenzen in unserem Geist als wirklich, obwohl sie nicht wahrhaft existent sind.
Ich würde hier auf Sauberkeit der Sprache bestehen. Einmal ist es verwirrend, von „äußeren Phänomenen“ zu sprechen. Gemeint ist die Außenwelt, die wir (zunächst?) als gegeben setzen sollten. Zweitens sollten wir meines Erachtens zwischen „nicht wahrhaft existent“ und „Illusion“ unterscheiden. Man wird durch den Begriff der „Illusion“ dem Problem von Existenz und Nicht-Existenz nicht gerecht, finde ich.
Vermutlich muss man auch zwischen jeweiligen Einzelheiten und der „Gesamtheit“ der Außenwelt unterscheiden. Wenn ich den Gegenstand Schreibtisch als wesentlich durch geistige Konzepte charakterisiert erkenne, folgt daraus ja nicht, dass die Außenwelt in ihrer Gesamtheit bloß Illusion sei.
Der zweite Aspekt für das Erleben der bedingten Existenz wird das „Abhängige“ genannt. Als Erklärung wird gesagt, dass unser Geist seiner Natur nach die Einheit von Raum und Bewusstheit ist. Er besitzt daher eine Erscheinungsform, ist Klares Licht.