Viel Dank, mukti , für Deine wichtige Anmerkung. Ich bin in Diskussionen schon gelegentlich auf die unrichtige Vorstellung gestoßen, das Schema der zwei Wahrheiten sei eine 'Spezialität' des Mahāyāna.
Gerne, mehr als den Hinweis auf dieses Thema im Theravada werde ich hier vermutlich nicht beitragen können und wollen. Abgesehen von der Frage wie es mit der intellektuellen Potenz steht, aus diesem Grund:
Zitat Sudhana:
Dieses Konzept der 'zwei Wahrheiten' erfuhr durch Nagārjuna (vgl. insbes. MMK 24.8 - 24.12) eine Wandlung des Verständnisses, das zu einem Merkmal mahāyānischer Traditionen wurde. Durch seine Methode der logischen Dekonstruktion zeigte er auf, dass philosophische Konstrukte, wie sie insbesondere im Kontext der dharma-Theorie diskutiert wurden (und in den Abhidhamma / Abhidharma - Texten der diversen Kanones ihren Ausdruck gefunden hatten), eben auch nur dies sein können: Konstrukte, 'entfaltete [Vorstellung]', prapañca.
Solches prapañca (Pali: papañca) gehört wohl nicht zum "Kernholz" der Lehre:
Zitat 'Ihr Bhikkhus, was die Quelle anbelangt, durch welche die Konzepte, die von begrifflichem Ausufern geprägt sind, einen Mann bedrängen: wenn dort nichts gefunden wird, woran man sich ergötzen könnte, was man willkommen heißen könnte und woran man sich festhalten könnte, dann ist dies das Ende der Neigung zur Begierde, der Neigung zur Abneigung, der Neigung zu Ansichten, der Neigung zum Zweifel, der Neigung zum Dünkel, der Neigung zur Begierde nach Werden, der Neigung zur Unwissenheit; dies ist das Ende des Gebrauchs von Knüppel und Waffe, von Streit, Zank, Streitgesprächen, Anschuldigung, Gehässigkeit und falscher Rede; hier hören diese üblen unheilsamen Zustände ohne Überbleibsel auf' M.18.
Zitat Sudhana:
Trotzdem ist diese Wahrheit nicht völlig unkommunizierbar. Was sich kommunizieren lässt, sind dṛṣṭi: Ansichten. Ansichten basieren immer auf einer Perspektive (einer Subjekt-Objekt-Beziehung) und diese Perspektive wiederum ist die Relation des Ansehenden auf etwas Angesehenes. Diese Relation lässt sich sprachlich ausdrücken - und wenn das 'Angesehene' die Wahrheit, paramārthasatya, ist, dann haben wir im Ausdruck eine relative Wahrheit, saṃvṛtisatya. Wenn.
Das wäre dann wohl eine relative Wahrheit die sich bei allen Menschen gleich zeigt, nach der Gleichheit ihrer Beschaffenheit, also der Zusammensetzung der Daseinsgruppen (khandha). Aus allgemein menschlicher Perspektive ließe sich diese Wahrheit gewissermaßen auch als absolut bezeichnen, in dem (eingeschränkten) Sinn dass sie für alle gilt. Das betrifft das "Kernholz" der Lehre, indem rechte Ansicht (sammā-ditthi) den erstgenannten Punkt des achtfachen Pfades bildet.
Zitat Sudhana:
Festzuhalten ist, dass in beiden Traditionen beide Wahrheiten nicht als widersprüchlich angesehen werden - aber zu beachten ist bei relativen Wahrheiten eben die Relation. Wobei ein nicht unwichtiger Teil dieser Relation das Eingehen auf den Empfänger der relativen Wahrheit ist. Übrigens ist das auch der Grund, warum zur Einleitung einer Sutte standardmäßig die Einführung in die Situation gehört, in der sie gesprochen wurde. Insbesondere die soziale Funktion und damit der Verständnishorizont des oder der Belehrten (Bhikkus, Brahmanen, Adlige, Kaufleute, Jäger, Holzfäller usw. usf.) ist für die Gestaltung der 'Botschaft' von Belang - was dem Leser oder Hörer Hier und Jetzt (idR kein Bhikku, Brahmane, Adliger ...) auch ein gewisses Einfühlungsvermögen abfordert. Genau da liegt die Fallgrube des Fundamentalismus.
Die an das Individuum angepassten Lehrreden sollen wohl letztlich zur allgemeingültigen rechten Ansicht (sammā-ditthi) führen. Demnach müssten sich die verschiedenen individuellen Ansichten sozusagen unter einen Hut bringen lassen, indem sie vorerst den Ansichten der Blinden gleichen die jeweils einen anderen Teil eines Elefanten zu fassen kriegen (Ud.VI.4.). Ihre Beschreibungen sind richtig, aber keine rechte Ansicht wenn sie nicht weiter vordringen und den Teil für das Ganze halten. Wobei die Darlegung der Wahrheit nicht zu einer Ausbreitung (papañca) veranlassen soll die endlose Argumentationen und Streitgespräche nach sich zieht, sondern zu einer Vertiefung, um von der Oberfläche individueller Ansicht in die Tiefe des Erkennens und Erfahrens zu sinken bzw. des tatsächlichen Sehens der Wahrheit, wie ja "ditthi" wörtlich "sehen" bedeutet.
So verstehe ich das jedenfalls und man darf mich ruhig in die Kategorie "Holzfäller" einordnen, dem so eine einfache nachvollziehbare Erklärung der zwei Wahrheiten als Formel für die Praxis genügt, wie sie Nyanatiloka gibt (erlaube mir einen Teil des Zitats zu wiederholen):
Zitat Im höchsten Sinne (paramattha) nämlich, so lehrt der Buddhismus, ist das sog. Dasein ein bloßer Prozess von beständig wechselnden körperlichen und geistigen Phänomenen, und weder innerhalb noch außerhalb dieses Werdeprozesses ist irgend eine beharrende Ich-Einheit oder Persönlichkeit anzutreffen.
Wenn also in den Texten von einem Wesen, einer Person, einem Selbst oder gar von der Wiedergeburt eines Wesens die Rede ist, so ist das selbstverständlich nicht im absoluten und höchsten Sinne (paramattha) gesagt, sondern als bloße 'konventionelle Ausdrucksweise' (vohāra-vacana) aufzufassen..
Mit dieser Verwirklichung wäre wohl das Ende des achtfachen Pfades erreicht.