Was soll Bewusstseins-kontinuum sein?

aus:
Die geheimen Lehren des tibetischen Buddhismus
A.D.Neel


Das Wissen 


Nach dieser kurzen Untersuchung der Theorie "voneinander abhängiger Ursachen" wollen wir nun auf die im zweiten Kapitel begonnene Erläuterung der Theorien über die Erinnerung zurückkommen. Im späteren Buddhismus, also zwischen dem fünften und sechsten Jahrhundert, erlangten die Theorien zum alaya-vijnana  eine große Bedeutung. Sie wurden zwar nicht genau zu dieser Zeit aufgestellt, denn ihre Samen existierten bereits früher, doch haben die Gelehrten des Mahayana-Buddhismus sie in dieser Zeit in den Vordergrund gebracht und entwickelt.  Alaya ist ein Sanskrit Wort und bedeutet "Aufenthaltsort", "Gefäß", "Speicher". Wir begegnen ihm in dem berühmten Namen der hohen Gebirgskette, die Indien von Tibet trennt: Himalaya, "Aufenthaltsort oder Speicher (hima) von Schnee und Eis (alaya)". Alaya-vijnana bedeutet also "Aufenthaltsort, Gefäß oder Speicher von Bewusstsein". Dabei sollte man nicht vergessen, daß der Begriff "Bewusstsein" im Buddhismus immer auch "Wissen" bedeutet: Man "weiß" etwas, wenn man sich dessen "bewusst" ist. Sich einer materiellen oder geistigen Sache bewusst zu sein be- deutet, daß man sie bemerkt hat. Es ist hier also von "Wissen" die Rede und nicht von einer imaginären geistigen Fähigkeit, die wie ein Richter in uns sitzt, der keine Widerrede duldet und unser Handeln nach einer Moral bewertet, die sich auf eine innere Vorstellung von Gut und Böse im absoluten Sinne beruft. 
Dieses alaya-vijnana oder "Speicherbewusstsein" wird in den populären und elementaren Lehren Tibets zwar nicht erwähnt, doch finden wir es in den sogenannten "inneren" Lehren (ngang) und in den geheimen mündlichen Instruktionen (gsang bai gdams ngag).
Was wird uns dort nun über dieses Bewusstsein ge- sagt? Jede physische oder geistige Handlung, jede Bewegung, sei es auf grober materieller Ebene oder auf der feinstoffliehen Ebene des Geistes, verursacht eine Energiestrahlung." Es wird, um einen gängigen Ausdruck zu verwenden, ein "Same":" erzeugt.  Dieser Same hat die Tendenz, unter günstigen Voraussetzungen wie ein materielles Samenkorn ein Wesen hervorzubringen, das zur selben Gattung gehört wie das Wesen, das den Samen erzeugte. Aus dem Samen einer Eiche wächst eine Eiche, aus dem eines Tieres, eines Hundes oder Vogels, wächst ein Tier, ein Hund oder ein Vogel. Dasselbe gilt für die zahllosen Energiesamen, die durch Zuneigung, Abneigung, Liebe, Hass und durch die diesen Empfindungen entsprechenden Handlungen ins Universum ge- schleudert werden. Auch das Gefühl, das uns an unser individuelles Leben bindet, erzeugt solche Energiesamen, und auch alle unsere Handlungen auf materieller Ebene, die dazu dienen sollen, unser individuelles Dasein zu bewahren und aufrechtzuerhalten, seine Macht zu verstärken und seinen Handlungsradius zu erweitern. Alle diese Samen haben die Tendenz, die psychischen oder materiellen Gegenstücke zu ihren "Eltern" hervorzubringen. 
Um solch einen Samen zu säen, ist es keineswegs erforderlich, daß unsere Gefühle in Taten zum Ausdruck kommen. Alle unsere Sehnsüchte und Wünsche, auch die uns nicht bewussten und die unterdrückten, alle unsere Gedanken, egal welcher Art sie sein mögen, stoßen ununterbrochen Samen aus. Außerdem sind auch die in unserem Unterbewusstsein ständig ablaufenden, uns selber also nicht bewussten Aktivitäten äußerst kraftvolle Quellen solcher Samen. 
Nach den mystischen Lehren muss man aber noch weitergehen. Man muss verstehen, begreifen und wirklich sehen, daß es keinen Grashalm und kein Sandkorn" gibt, das nicht aufgrund der Aktivität seines physischen und psychischen Lebens solche Samen sät. Man darf da- bei natürlich nicht vergessen, daß deren Leben ihrer jeweiligen Gattung entspricht und sich in keiner Weise mit dem menschlichen vergleichen lässt. 
In dieser Welt, die Bewegung ist, kann es auch nicht die geringste Bewegung geben, ohne daß sie andere Bewegungen, andere Manifestationen von Energie auslöst, die ihrerseits zu Wiederholungen tendieren, die von "Erinnerungen" (vasana) oder, wie sie die Tibeter nennen, von "Tendenzen, Neigungen" (pagtschag) abhängen. Jede unserer physischen und geistigen Handlungen ist nicht nur die Frucht von Ursachen, die aus dem gesamten Universum stammen, sondern wirkt sich auch auf das gesamte Universum aus. So entfaltet sich ohne erkennbaren Anfang ein Spiel von Aktivitäten, die das Universum ausmachen. 
Staubkörnern verglichen, von denen die Meister der mystischen Lehren sagen, jedes einzelne sei eine Welt für sich mit unzähligen Wesen, und in jeder dieser Welten spiele sich das Drama von Geburt und Tod ab, vergleichbar mit dem, an das wir in unserer eigenen Welt gewöhnt sind. 
Es gibt eine Theorie, nach der diese Energiesamen, die dauernd in das Universum geschleudert werden, in einem Gefäß (alaya) gespeichert werden und dort als latente Energieformen ruhen. Da warten sie nun auf die angemessenen Umstände, um sich manifestieren zu können, so wie Samenkörner in einer Scheune erst dann keimen, wenn man sie mit feuchter Erde in Verbindung bringt. 
Entsprechend angemessene Umstände tauchen allerdings ständig auf. So strömen ununterbrochen Samen in das Gefäß ein, und andere Samen strömen ebenso ununterbrochen aus ihm heraus in Gestalt von Gewohnheiten, Neigungen und "Erinnerungen" (vasana) physischer oder psychischer Art. Sie begünstigen eine Wiederholung von materiellen und geistigen Handlungen, die sich bereits früher einmal ereigneten. 
Unter welchen Voraussetzungen keimen diese Samen nun? Zunächst einmal sind diese Voraussetzungen selber auch das Produkt von Samen, denn nichts kann außerhalb des Kreislaufs von Handlungen und deren Früchten, also außerhalb der Verkettung von Ursachen und Wirkungen existieren. Jede Ursache ist zugleich die Wirkung einer vorangehenden Ursache, und diese Wirkung wird zur Ursache für eine andere Wirkung. 
Gewisse Gelehrte des Mahayana-Buddhismus vergleichen "alaya" mit "einem ununterbrochenen Fluss mit einer ständigen Strömung". Dieser Vergleich mit einem "fließenden Strom" führt uns weit fort von dem Bild eines Gefäßes oder Speichers für Samen, das eher die Vorstellung von Unbeweglichkeit oder Stagnation hervorruft. Andere haben die Vorstellung der Unbeweglichkeit jedoch in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Namen mehr oder weniger beibehalten, denn eine Welt, die nichts anderes als Bewegung ist, macht sie schwindlig. Sie finden keinen Halt darin, keine solide Stütze, an die sie sich klammern können und  möchten, und so erfinden sie sie im Geiste, bis sie schließlich den alaya in einen garbha, das Gefäß in eine Gebärmutter verwandelt haben, die alle Wesen enthält. Diese Vorstellung entspricht dem brahman der Veddnta- Philosophie. 
Die geheimen Lehren vertreten hier eine ganz andere Auffassung, die auf der grundsätzlichen Vergänglichkeit aller Phänomene und auf der Tatsache beruht, daß alle Phänomene zusammengesetzte Gebilde sind. Die Sa- men kann man nicht als beständig ansehen, weil sie die Produkte geistiger Tätigkeiten sind und mit materieller Aktivität verbunden sein können, aber nicht müssen, und weil sie aus verschiedenen Elementen zusammenge setzt sind. Wie alle Gebilde bestehen sie aus aufeinander folgenden flüchtigen Momenten. 
Wie kann man sich aber ein Gefäß oder Behältnis vorstellen, das etwas Flüchtiges in einer Art Wartezustand oder im Zustand der Ruhe enthält, obwohl es keine wirkliche Dauer besitzt?  In Wahrheit gibt es des- halb nur ein ständiges Fließen von Energieblitzen.  Es ist sowohl ununterbrochen (es hört nie auf), als auch unterbrochen (es besteht aus einzelnen Momenten). Ursachen und Wirkungen erzeugen einander auf eine Art, daß die Erzeuger-Ursachen nie die von ihnen erzeugten Wirkungen kennen können. Denn die Ursache verschwindet ja mit dem Auftauchen der Wirkung, oder besser und richtiger gesagt: das Verschwinden selber erzeugt die Wirkung, das neue Phänomen. 
Vasubandhu  unterstützt diese Theorie des alaya- Gefäßes in gewisser Weise, wenn er sagt: Eine Handlung vergeht unmittelbar nach ihrer Entstehung und kann deshalb unmöglich selber eine Wirkung erzeugen. Sie vermittelt dem Wurzelbewusstsein (mula-vijnana) jedoch Wirkungsmöglichkeiten, Samen oder Energien, die ihrerseits die Wirkung erzeugen. Diese Wirkungsmöglichkeiten werden vasana (Erinnerung) genannt. 
Können wir das "Wurzelbewusstsein", das diese Eindrücke empfängt, mit dem Gefäß vergleichen, aus dem manche schon fast eine mystische Persönlichkeit gemacht haben? Wir werden sehen, was die mystischen Lehren dazu sagen. Doch zunächst einmal wollen wir uns eine Erklärung von Hiuan Tsang anschauen, mit der er die Vorstellung von Vasubandhu bestätigt. Da- nach wird eine Wirkung nicht von einer Handlung erzeugt, sondern von dem Eindruck, den diese Handlung im "Wurzelbewusstsein" hinterlässt. 
"Die Frucht hat nicht dieselbe Natur wie die Handlung", sagt Hiuan Tsang, "denn sie wird nicht direkt von der Handlung erzeugt." 
Die geheimen Lehren widersprechen dieser Auffassung in keiner Weise. Der Schüler wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß eine Wirkung niemals Produkt einer einzelnen Ursache ist, sondern immer mehrerer Ursachen von ungleicher Stärke. Die Samen sind aber von Anfang an aus verschiedenen Dingen zusammengesetzt, und dazu gehören auch unterschiedliche Elemente. Außerdem ist die Umgebung, in die sie geworfen werden, selber ebenfalls eine Mischung aus unähnlichen Elementen, so daß der Same, ehe er eine Wirkung erzeugen kann, notwendigerweise mit anderen Samen in Kontakt kommt. Auf diese Weise überlagern sich die "Eindrücke", wie Vasubandhu sie nennt, auf unterschiedliche Art, und nur selten entspricht ein Eindruck genau einem anderen. Aufgrund dieser Kontakte, dieser Überlagerungen, verändern sich also die Samen und Eindrücke und weichen mehr oder weniger von ihrer ursprünglichen Natur ab. 
Daraus folgt, daß die vasana(s) - die Erinnerungen, Samen, Tendenzen, Gewohnheiten und so weiter - die Struktur der Vergangenheit (physische oder psychische Aktivitäten) niemals nach einem absolut identischen Muster erschaffen. Das Muster der Zukunft wird zwar von den "Erinnerungen" beeinflusst und wird deshalb mehr oder weniger deutliche Ähnlichkeiten mit dem Muster der Vergangenheit aufweisen, doch wird die Kopie niemals mit dem Original identisch sein. Das aber schließt dann auch die Möglichkeit einer genauen Voraussage aus. Manche Menschen glauben allerdings, man könne die Wirkungen und damit das Bild der Zukunft vorhersehen, vorausgesetzt man kennt alle in der Gegenwart existierenden Ursachen. Diese Auffassung wird jedoch in den geheimen Lehren abgelehnt. 
Auf der Grundlage des Gesetzes von der Unbeständigkeit warnen die Lehren vor der Vorstellung eines absoluten Determinismus. Dem Schüler, so heißt es, sei nur ein Bereich von Wahrscheinlichkeiten zugänglich. Gleichzeitig aber wird die deterministische Lehre von der Verkettung von Ursachen und Wirkungen aufrechterhalten. 
Doch selbst wenn wir annehmen, daß man in einem bestimmten Augenblick alle Ursachen kennen und in demselben Moment die Wirkungen berechnen könnte, die von Natur aus durch diese Ursachen erzeugt würden, so hätten sich diese Ursachen in dem nächst folgenden Moment doch bereits verändert, weil sie mit anderen Ursachen und Kräften in Kontakt gekommen sind. Sie sind also nicht mehr identisch mit dem, was sie vorher waren. In Wirklichkeit kommen zusätzlich auch noch weitere und andersartige Ursachen mit ins Spiel. Daraus folgt, daß sich die Wirkungen, die man aufgrund dieser zusätzlichen Ursachen jetzt erwartet, von denen unterscheiden, die man im vorigen Moment vorausgesagt hatte. Gleichzeitig spielt sich ein ähnlicher Vorgang in den Sinnesorganen und im "Geist" des Beobachters ab, die sich alle ebenfalls von einem Augenblick zum nächsten verändern." 
Wir haben es hier also mit einem zweifachen Strom flüchtiger Phänomene zu tun. Welcher Augenblick könnte uns da ein stilles Bild von Ursachen zeigen, das als angemessene Basis für die genaue Bestimmung aller Elemente dienen könnte, die das Bild der Zukunft fest- legen? 
Die Tibeter übersetzen alaya-vijnana mit kun gzhi rnam par schespa . Doch ist diese Übersetzung genau? Eine derartige Diskussion sprengt natürlich den Rahmen des vorliegenden Buches, doch müssen wir die Bedeutung, die die Tibeter diesem Begriff in ihren geheimen Lehren geben, so genau wie möglich verstehen. 
Die Vorstellung eines "Gefäßes" kann man nicht auf kun gzhi anwenden. Gzhi bedeutet "Grundlage", aber auch "Familienbesitz".  Das gzhi eines Menschen bezeichnet einen Wohnsitz, der zunächst seiner Familie gehörte, der dann aber in seinen Besitz überging. Im übertragenen Sinne kann gzhi auch die Grundlage einer Lehre bedeuten, das Fundament eines Gebäudes und ganz allgemein jede Art von Basis für was auch immer. 
Kun bedeutet "alles". Rnam par schespa besteht aus zwei Worten: rnampar - vollkommen" und schespa - "wissen", "vertraut sein mit". Kun gzhi rnam par sehespa bedeutet also "Vertrautsein- Wissen als Basis von allem" oder genauer "grundlegendes Wissen". 
An dieser Stelle bedarf es einiger Erläuterungen. Zu- nächst einmal müssen wir verstehen, daß es sich hier um ein Wissen oder Bewusstsein handelt, das von dem höheren Wissen, dem sogenannten schesrab  vollkommen verschieden ist. Das Wissen, das uns hier als Grundlage von allem vorgestellt wird, erzeugt Unterschiede und Trennungen. Es verteilt Namen, Formen und Eigen schaften. Kurz gesagt: Es ordnet die Welt. Die Welt ist sein Werk. 
Dieses Wissen ist aber eine Täuschung. Es ist von unseren Sinnen abhängig, die alle ihren Beitrag zum gemeinsamen Ganzen leisten. So trifft man folgende Unterscheidungen: 
Wissen aufgrund der Augen - Formen und Farben. 
Wissen aufgrund der Ohren - Klänge. 
Wissen aufgrund der Zunge - Geschmäcker. 
Wissen aufgrund der Nase - Gerüche. 
Wissen aufgrund der Haut, das auf dem Spüren, dem Kontakt mit Dingen beruht. 
Und schließlich die sechste Art von solchem Wissen, das alles andere als unbedeutend ist und auf dem Geist beruht, das heißt auf geistigen Kontakten: Ideen, Vorstellungen und so weiter. 
Es werden aber noch zwei weitere Arten von Wissen erwähnt, die eine ganz andere Bedeutung haben als die Sanskrit-Wörter, die die buddhistischen Gelehrten als vijnana(s) auflisten. Eine von diesen ist eine Zusammenfassung der sechs oben aufgeführten Arten von Wissen und gilt als das Wissen oder Verständnis eines verdunkelten Geistes (ngong mongs pa tschan gyi yid kyi rnam par schespa." Es handelt sich um falsches Wissen, um einen Irrtum, der einen Geist beherrscht, der von den Sinnen falsche Informationen bekommen hat. Die Informationen oder Eindrücke, die die Sinne an den Geist weiterleiten, sind jedoch immer falsch, da sie die Wirklichkeit nicht begreifen oder umfassen können. 
Das Verständnis eines "verdunkelten" Geistes ist der Verbündete des Verständnisses, das "begreift" (len pai rnam par schespa). Die falschen Vorstellungen eines verdunkelten oder überschatteten Geistes werden nun aufgegriffen und zusammengestellt und bilden dann die Motive zum Handeln. Es kommt zu einer auf solch falschem Wissen beruhenden geistigen Aktivität, die ein Bild von der Welt entwirft, das nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Wir sehen jetzt diese Welt wie ein Spiel, das außerhalb von uns stattfindet, während es in Wirklichkeit nichts anderes gibt als eine Leinwand mit vielfarbigen Mustern, die wir .in uns entsprechend unserem falschen Wissen selber gewoben und bemalt haben. So ist also das kun gzhi rnam par schespa, das aus den Beiträgen aller rnam par schespas besteht, keineswegs ein mythisches Gefäß, sondern unser eigenes Bewusstsein, die Grundlage der Welt der Phänomene, unser gesamtes Universum. 
Der aus "Samen" bestehende "Fluss" mit seiner zugleich ununterbrochenen wie auch unterbrochenen Strömung ist also nichts anderes als unser Geist, in dem die rnam par schespas und die von ihnen erzeugten Verständnisse, Vorstellungen und so weiter in einer ununterbrochenen Serie voneinander getrennter Momente erscheinen und sofort wieder verschwinden. 
An dieser Stelle stellt der Meister, der die geheimen Lehren an seinen Schüler weitergibt, eine Frage: "Was verstehst du unter 'deinem Geist', wenn du über ihn sprichst oder an ihn denkst?" 
Den Tibetern stehen drei verschiedene Worte zur Verfügung, um das, was wir "Geist" nennen, zum Ausdruck zu bringen: sems, yid und blo. Diese drei Worte sind nicht bedeutungsgleich. 
Blo bezeichnet sämtliche Zustände des Geistes: erregt, ruhig, aufmerksam, forschend, lustlos, gleichgültig, äußeren Eindrücken gegenüber offen oder unempfindlich, unterscheidungsfähig, Tendenz zur Klassifizierung oder keiner Unterschiede bewusst, phantasievoll oder realistisch, auf greifbare Tatsachen gerichtet, verständnisvoll oder stumpf, leidenschaftlich oder unbeeindruckt, ein Geist, der Ideen verarbeitet, sammelt und analysiert, ein gedemütigter, deprimierter oder wacher Geist und so weiter. 
Blo bezeichnet also alle Arten, in denen sich der Geist zeigt. Yid bedeutet Geist im Sinne des reinen Intellekts. 
Sems hat meist eine allgemeinere Bedeutung, etwa "Denkprinzip", das zum Beispiel Lebewesen von angeblich unbelebten Dingen unterscheidet. Im exoterischen Sinne bedeutet sems etwas ähnliches wie namesches (oder jiva in Indien): das "Bewusstsein", welches immer wiedergeboren wird. Der Ausdruck sems tschen (mit sems oder Geist versehen) bedeutet in der Schriftsprache "alle belebten Wesen" einschließlich der Menschen, doch im allgemeinen Sprachgebrauch wird er nur für Tiere verwendet und gilt, auf Menschen angewendet, als Beleidigung. 
Der Schüler muss zunächst die Bedeutungen der drei Worte für die unterschiedlichen Aspekte des Geistes lernen, so daß er die Frage des Meisters versteht, der darin das allgemeine Wort sems für Geist benutzt: "Was verstehst du unter 'deinem Geist', wenn du über ihn sprichst oder an ihn denkst?" 
Damit der Schüler die Vielfältigkeit und Kurzlebigkeit dessen erkennen kann, was wir "Geist" nennen, erklärt der Meister eingehend die verschiedenen geistigen Zustände, von denen wir oben bereits einige erwähnt haben. Es wurde bewiesen, daß die Vorstellung eines unabhängig von seinen Bestandteilen bestehenden "Ich" falsch ist. Ebenso wird die Vorstellung abgelehnt, es gäbe einen Geist, der unabhängig von diesen geistigen Zuständen, von diesen unterschiedlichen Aktivitäten existiert, die den Geist ausmachen. 
Betrachten aber nicht die meisten Menschen gerade diesen "Geist" als ihr wahres und dauerhaftes "Ich", mit dem sie sich zwar nicht identifizieren, dem sie aber trotzdem diese verschiedenen Zustände und Arten von Aktivität zuschreiben? Den buddhistischen Schriften zufolge soll Buddha darüber folgendes gesagt haben: 
"Es wäre besser, den Körper anstatt den Geist als 'Ich' anzusehen, denn der Körper scheint wenigstens ein, zwei oder hundert Jahre zu bestehen, während das, was wir mit Geist, Gedanke oder Wissen bezeichnen, sich dauernd verändert, kommt und geht wie Tag und Nacht. 
Wie ein im Wald herumtollender Affe einen Ast greift, ihn dann wieder loslässt um einen anderen zu greifen, so verändert sich auch ständig das, was Geist, Gedanke oder Wissen genannt wird; es kommt und geht wie Tag und Nacht."? 
Ein Schüler der geheimen Lehren ist nicht nur mit diesen Theorien vertraut, sondern hat sie bereits selber überprüft und festgestellt, daß sie richtig sind. Während der Meditation hat er seinen Geist ganz aufmerksam beobachtet und lag mthong, die mystische Einsicht erlangt. So sieht er mehr als die meisten Menschen, und er schaut sich einfach das ständige Auftauchen und Verschwinden von Vorstellungen, Wünschen, Erinnerungen und so weiter an, die wie kurzlebige Blasen auf einem Fluss vorbeitreiben. Er hat selber erkannt, daß man mit dem einen Wort "Geist" eine ganze Reihe verschiedener geistiger Phänomene bezeichnet. 
Trotz allem kann die tiefsitzende Gewohnheit, auf der Grundlage eines "Ich" zu denken, dazu führen, daß der Schüler seinen Geist einschränkt. Er kann also den Geist als einen Strom flüchtiger Augenblicke ansehen und gleichzeitig bewusst oder unbewusst die Theorie der santana(s) akzeptieren, nach der der Geist aus isolierten Bewusstseinsströmen und geistigen Aktivitäten besteht, die ihren jeweils eigenen, individuellen Verlauf nehmen. 
Nach den geheimen Lehren muss man jedoch begreifen, sehen und spüren, daß es gar keinen Strom gibt, den man als meinen Geist ansehen könnte. Daraus folgt, daß es auch keine Vielzahl von Strömen gibt, die geistigen Instanzen anderer Menschen entsprechen. Es gibt viel- mehr nur einen einzigen Strom ohne erkennbaren Anfang, den kun gzhi rnam par schespa, der aus der Summe aller jeweils wirksamen geistigen Aktivitäten besteht. Was wir unseren Geist nennen, ist in diese Gesamtheit eingetaucht. Trotzdem versuchen wir mühsam, diesen Geist abzugrenzen und zu definieren - ein wahrhaft sinnloses Bemühen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, die Gedanken, Wünsche und Bedürfnisse, die wir im Leben empfinden, unser Lebensdurst - nichts von all dem gehört wirklich uns allein. Alles das ist Gemeingut, ist der fließende Strom unberechenbarer Momente des Bewusstseins, der seinen Ursprung in den unerreichbaren Tiefen der Ewigkeit hat. 
Hier finden wir wieder die Vorstellung des alaya-vijnana, doch diesmal in anderer Gestalt, nicht als eine Mischung von "Samen". Sie sind hier vielmehr selber die Früchte von Handlungen und bestimmten neuen Handlungen und beruhen auf "Erinnerungen", wie die Inder sagen, oder "Tendenzen", wie es die Tibeter nennen. 
Doch reicht es nicht, solche Lehren einfach nur zu hören oder Erklärungen solcher Lehren in philosophischen Schriften zu lesen. Man muss sie selber sehen, wirklich sehen, als Ergebnis einer scharfsinnigen Ein- sicht, einer durchdringenden Schau, lhag thong, die uns weiter blicken lässt als je zuvor. Lhag thong, die transzendente Einsicht, mit der man über die Erscheinungen hinausblickt und unter ihre Oberfläche dringt, kann wie alle Fähigkeiten entwickelt und kultiviert werden. Es liegt an uns, dies zu tun und uns damit auf die faszinierendste aller Forschungsreisen vorzubereiten.