Psychische Stressreaktionen bei Meditation und Achtsamkeitsübungen

  • Was können Meditierende selbst und auch Meditationslehrer tun, wenn im Retreat bei ein Teilnehmer unerwünschte Emotionen auftauchen, wie etwa Ängste?


    Es geht immer um Fürsorge
    Über den Umgang mit psychischen Stressreaktionen bei Meditation und Achtsamkeitsübungen. Dr. Matthias Hammer ist Psychologe und Verhaltenstherapeut.
    www.ursachewirkung.com

    "Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, meine Sicht ist die einzig richtige."

    Nagarjuna

  • Das erinnert mich an ein Seminar im Kamalashila-Institut, welches einen bestimmten Teil des Ngöndro beinhaltete.


    Wie sich nachher herausstellte, litt einer der Teilnehmer augenscheinlich an Tourette-Syndrom Tourette-Syndrom – Wikipedia , mehr brauche ich dazu nicht zu erklären. Jedenfalls entsprach sein Verhalten ungefähr dem, wie bei Wikip. beschrieben. der Teilnehmer war offensichtlich von seinem Neurologen darauf geschult, was er machen muss, wenn ein "Anfall" aufkommt: er machte dann so rhythmische Bewegungen mit den Armen/Händen. Das irritierte zunächst die anderen Teilnehmer, wurde aber akzeptiert. Ich hatte es nach Hörensagen auch so verstanden, dass er von seinem Neurologen eine schriftliche Erlaubnis erhalten hatte, an dem Kursus teilzunehmen.

    Nun war aber dieser Teilnehmer, wie wir alle, auch zum Küchendienst eingeteilt. Und in dieser Küche war eine ehrenamtliche Mitarbeiterin tätig, um den Ablauf des Abwaschs usw. zu überwachen und evtl. einzugreifen. Sie kommt schon ein paar Jahre zum Kamalashila-Institut als ehrenamtliche Helferin und ist älteren Semesters, ungefähr Mitte Siebzig. So, wie ich sie kenne, ist sie ein Mensch von eher grobschlächtiger Natur und wenig einfühlsam.

    Nun war es so weit und der besagte Teilnehmer war zum Küchendienst dran, während ich noch, am Ende der Mahlzeit, doch die Allgemeinheit schon im Aufbruch begriffen, etwas länger bei Tisch saß, da ich noch mit Anderen im Gespräch war. Der Küchendienst-Teilnehmer aber befand sich zu dem Zeitpunkt schon in der Abwasch-Küche.

    Plötzlich ein furchtbares Gepolter und Gebrüll vonseiten der Ehrenamtlichen! Es schallte bedrohlich laut aus der Küche bis in den Speiseraum. Vor Schreck fuhren wir zusammen. Mit furchtbar bösen und beleidigenden Worten warf die Ehrenamtliche den armen Teilnehmer aus der Küche und schimpfte laut, dass er sich nie wieder dort blicken lassen dürfe.

    Ich habe keine Ahnung, was passiert war. Absolut keine Ahnung!

    Der arme Teilnehmer tat mir unsäglich Leid. Diese Krankheit, für die er nichts konnte, und dann seine Einsamkeit und Verletzung, die daraus resultiert. Noch weniger kann ich verstehen, dass die Ehrenamtliche auch an dem Kursus teilnahm (Ehrenamtliche dürfen immer kostenlos an Kursen teilnehmen). Dadurch hatte sie den besagten Teilnehmer schon eine ganze Weile beobachten können, und falls er sich in der Spülküche schräg verhalten hatte, hätte sie das doch zuordnen können!

    Am nächsten Tag saß ich mit dem leitenden Lama beim Frühstück. Weil er weiß, dass ich einen medizinischen Beruf habe, fragte er mich, was mit dem Teilnehmer denn los sei und welche Krankheit er habe. Der Lama hatte absolut keine Ahnung vom Tourette-Syndrom. Ich erklärte es. Aber ich bin überzeugt (aus Erfahrung), dass der Lama die Ehrenamtliche ganz sicher nicht beiseite genommen und ihr die Leviten gelesen hat. Da ist dann vielleicht wieder so eine Scheu da, dass sie darauf ihr Ehrenamt aufgeben könnte. Das Ganze hing also wie eine riesige Frage im Raum und keiner sprach es mehr an. Diese Atmosphäre fand ich bedrückend.


    Leider sind die Lamas überhaupt nicht auf Psychologie und neurologische Störungen geschult, sie haben da keinen blassen Schimmer. Obwohl es heißt, dass sie in ihrer modernen Ausbildung doch das Fach Psychologie absolvieren müssen. Fragt sich nur wie, und mit welchen Inhalten. Jedenfalls wahrscheinlich so, dass es keinesfalls - bei Zwischenfällen - ausreicht.

    Aber auch der persönliche Neurologe des Teilnehmers, der ihm schriftlich die Erlaubnis zur Teilnahme gegeben hat, scheint keinen blassen Schimmer zu haben.


    Das Ganze liegt jetzt vielleicht 5 Jahre zurück, genau weiß ich es nicht mehr. Und ich muss noch oft daran denken und es macht mich sehr traurig.

    Verdrängung scheint an der Tagesordnung zu sein, egal ob es sich um sexuellen Missbrauch oder um den Umgang mit neurologisch Erkrankten handelt.

    Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest,
    sondern wolle, dass alles so geschieht, wie es geschieht,
    und es wird dir gut gehen.
    Epiktet

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  • Ich habe schon oft Meditationen angeleitet. Ich würde aber nie ohne vorherige Schulung zu negativen Auswirkungen von Meditation und sowas wie „Wir erkennt man eine Psychose und was ist dann zu tun?“, ein längeres Meditations-Retreat leiten wollen.

    "Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, meine Sicht ist die einzig richtige."

    Nagarjuna

  • Wenn ein Medikament Nebenwirkungen auslöst, setzt man es gewöhnlich ab oder verringert die Dosis.


    Jemand der einem seelische Unterstützung anbietet ist sicher auch hilfreich, allerdings kann jemand selten Babysitter für jeden spielen, habe ich zumindest auf Retreats noch nicht erlebt.

    Und selbst wenn, wieviel vertrauen schenkt man so jemanden und welche Risiken gehen damit einher?


    Ich würde sagen, wenn man es nicht packt, sollte man es auch nicht tun, oder später nochmal versuchen, manche gehen wohl auch einfach mit dem Kopf durch die Wand, weiß nicht, ob das so gesund ist.

  • Danke für den interessanten Beitrag. Ich finde es wichtig, dass man als LehrerIn zumindest Grundkenntnisse hat, wie man die geschilderten möglichen Wirkungen von Retreats erkennt.


    Ich finde es aber auch umgekehrt wichtig: Dass klar ist, dass die Auseinandersetzung mit psychischen "Störungen" für die meisten Teil des Weges ist, nix mit nur "Frieden und Liebe". Und das oft eine Kombination der buddhistischen Praxis mit psychotherapeutischer Betreuung angesagt ist.


    Liebe Grüße,

    Aravind.

  • Ich würde sagen, wenn man es nicht packt, sollte man es auch nicht tun, oder später nochmal versuchen, manche gehen wohl auch einfach mit dem Kopf durch die Wand, weiß nicht, ob das so gesund ist.

    Ich weiß nicht genau, wie Du das meinst;

    allerdings sehe ich es so, dass der Kandidat einfach den Wunsch hatte, an so einem Seminar teilzunehmen, und sich gewissenhaft bei seinem Neurologen erkundigt hatte, ob das bei seiner Konstellation zumutbar ist.

    Ich glaube nicht, dass er darüber nachgedacht hat, ob er es packt oder nicht. In diesem Sinne ist er ja auch nicht mit dem Kopf durch die Wand gegangen, und so wirkte er auch gar nicht auf mich. Er wirkte eher sanft und friedlich, sogar fast ein bisschen schüchtern, was ja nicht verwundert bei seinem neurologischen Problem (böse Erfahrungen mit Mitmenschen). Eigentlich war er mir ganz sympathisch.

    Oder meintest Du damit die Ehrenamtliche, die sich so verachtend und gefühllos ihm gegenüber verhalten hat?

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    Epiktet

  • Ich würde sagen, wenn man es nicht packt, sollte man es auch nicht tun, oder später nochmal versuchen, manche gehen wohl auch einfach mit dem Kopf durch die Wand, weiß nicht, ob das so gesund ist.

    Bei Meditation nimmt man sich ja die Möglichkeit, Sachen auszuagieren und setzt sich von daher sich selber in voller Breitseite aus.


    Von daher denke ich, dass das dann für Leute die in sich viele seelische Verletzungen haben, eine ganzschöne Herausforderung sein kann. Mir fällt da Claude AnShin Thomas ein:


    1968 wurde er nach einer schweren Verwundung in Ehren aus der US-Armee entlassen und kehrte in die USA zurück. Er fand es wie viele Veteranen schwierig, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Trotz seiner Hinwendung zu Sport und Ausbildung führten ihn die unbewältigten Kriegserlebnisse immer wieder in Schlaflosigkeit, Unruhe, Alkohol- und Drogenmissbrauch.

    1991 lernte er den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh kennen und wandte sich auf der Suche nach Heilung der traumatischen Schädigungen der Meditation zu. In der Folge verbrachte er längere Zeit in der klösterlichen Atmosphäre des Meditationszentrums Plum Village in Frankreich.

    Von daher sind es ja gerade diejenigen mit viel "inneren Abgründen" für die Meditation essentiell wäre.


    Es klingt nachvollziehbar, dass Meditataion für Leute mit schweren Traumatisierungen falsch sein kann, weil da traumatische Erinnerungen hochkommen können. Auf der anderen Seite ist es aber, so dass Meditation als Teil von Massnahmen zur Traumabewältigung verwendet wird. Mitra Bishop , eine Zen Äbtin (Mountain Gate, Hidden Valley Zen Center) in Südkalifornien hilft z.B dabei , weiblichen Armeeangehörigen mit prostraumtischen Belastungssyndrom zu helfen. Ich stelle mir vor, dass gerade Soldaten da sehr schwere Angsststörungen haben können.


    Realizing that women veterans suffering from post-traumatic stress are among the least supported of our military veterans with PTSD, I initiated a program called Regaining Balance Retreats for Women Veterans with PTSD, in 2013. Subsequently, after being asked to do so by a counselor at the VA Center, I added Regaining Balance Retreats for Women Partners/Spouses of Vets with PTSD.
    You can access this program's website at www.RegainingBalance.org

    Und auf der genannten Seite wird auf eine Forscherin verwiesen, die auf (eher schwach) positive Effekte von MBSR bei posstraumtischer Belasstungsstörung verweist.

    “Dr. Elizabeth Hoge, a psychiatrist at the Center for Anxiety and Traumatic Stress Disorders at Massachusetts General Hospital and an assistant professor of psychiatry at Harvard Medical School, says that mindfulness meditation makes perfect sense for treating anxiety.... One of her recent studies (which was included in the JAMA Internal Medicine review) found that a mindfulness-based stress reduction program helped quell anxiety symptoms in people with generalized anxiety disorder, a condition marked by hard-to-control worries, poor sleep, and irritability.”

    Wobei natürlich die Aussage, dass Meditation manchen traumatsierten Menschen helfen kann ist das natürlich druchaus damit vereinbar, dass es eine Untergruppe gibt, für die es schädlich ist.

  • Auf der anderen Seite ist es aber, so dass Meditation als Teil von Massnahmen zur Traumabewältigung verwendet wird.

    Damit habe ich persönliche Erfahrung, das hat mit der Situation auf einem Retreat nichts zu tun. Die Methode, mit der ich gearbeitet habe, benutzt einen ganz eng geführten Bodyscan im 1:1-Setting in einem vertrauensvollen persönlichem Verhältnis (ich habe als Trauma-Patient damit gearbeitet, meine Frau als Therapeutin mit Kindern).


    Dadurch kommt man den Regionen im Körper und im Geist auf eine abgesicherte Art und Weise näher, ohne komplett in Panik zu verfallen oder zu erstarren. Mit der Zeit lösen sich die Grenzen des "dunklen" Terrains und werden durchlässiger, und man kann sich in einem geschützten Rahmen immer mehr davon "anschauen" und es objektiv beschreiben. Wie beim Bodyscan in der buddhistischen Praxis, aber eben eng geführt und stark unterstützt. Dadurch entsteht Abstand und man nicht dissoziiert nicht.


    Liebe Grüße,

    Aravind.

  • Zitat

    Menschen wünschten sich schnelle Antworten für ihre Probleme und würden deshalb oft bei Achtsamkeit und Meditation landen. Diese „TikTokifizierung psychischer Gesundheit“ hält Durvasula jedoch für problematisch. Achtsamkeitspraktiken seien nur „ein Werkzeug von vielen“, benötigten eine gewisse Vorsicht. Und ob sie helfen oder schaden, hänge von der Vorgeschichte und der Persönlichkeit der jeweiligen Person ab.

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    utopia.de

    Ein Leben ohne Selbsterforschung verdiente gar nicht gelebt zu werden.

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