Ein Text, über den ich mal gestolpert bin. Er hat mich angesprochen.
ZitatAlles anzeigenDie Natur des Geistes ist reines Gewahrsein. Dieses spiegelt die Sinneseindrücke ohne Interpretation. Doch wir Menschen formen die Eindrücke zu Bildern und fassen sie in Worte, die wir im Gedächtnis speichern. Diese Wort-Gebilde ersetzen die unmittelbaren Sinneseindrücke. Wir machen uns nicht nur Bilder von den Dingen der Aussenwelt, sondern setzen unsere Vernunft ein und schaffen auch noch Worte für Dinge, die aussen gar nicht existieren, wie Liebe, Glück, richtig, falsch und viele andere abstrakte Begriffe. Aber die Bilder und Worte sind nicht der Geist selbst. Es sind die Inhalte des Geistes. Nimmt man alle Inhalte heraus, sieht man den reinen Geist. Der von allen Gedanken entleerte Geist ist der ursprüngliche, reine, leere Geist. „Rein“ und „leer“ sind hier gleichbedeutend.
Die Worte „leer“ und „Leerheit“ sind trügerisch. Man stellt sich darunter leicht ein abstraktes Nichts vor, ein „Nichts“ im Gegensatz zu „Etwas“. Oder man hält es für etwas Mystisches und Geheimnisvolles. In der Wirklichkeit gibt es jedoch nichts Geheimnisvolles und nichts Mystisches.
Viele, die an der Idee festhalten, „leer“ bedeute, dass nichts existiere, ziehen da- raus den falschen Schluss, dass alles, was sie um sich herum sehen, eine Art Fata Morgana sei, völlig dem Zufall überlassen, ohne Ursache und Wirkung. Sie behaupten, dass es im ganzen Universum überhaupt nichts gebe, ja, dass selbst das Universum nur Einbildung sei. Diese Ansicht ist schädlich, da sie die Leere vom materialistischen Standpunkt aus interpretiert. Die Menschen, welche in der materiellen Idee von Leerheit leben, sind wie berauscht, sie meinen, sie könnten tun und lassen, was ihnen beliebt, sie bräuchten sich um keine Gesetze und Moral zu kümmern. Sie kennen die Quelle ihres eigenen Bewusstseins nicht und ver- giften dadurch ihr Denken und Handeln.
Ihr müsst wissen, dass der reine, leere Geist nicht euer individueller, nicht der menschliche Geist ist, sondern das Wesen des ganzen Universums. Es ist der wunderbare Geist, der niemandem gehört. Das ganze Universum ist leerer Geist. Sämtliche Phänomene – materielle Dinge sowie mentale Vorgänge – sind Manifestationen des einen, leeren Geistes. Ihr könnt diese Leerheit nicht gedanklich fassen oder herbeidenken; sie ist der immer währende, allgegenwärtige Zustand eures Wesens und kann nur auf der Basis eurer eigenen Meditationserfahrung intuitiv verstanden werden.
Einige Menschen bezahlen viel Geld für die Bahn, um zu mir zu kommen und mich zu fragen, wie sie das Rückgrat aufrecht halten und den Atem kontrollieren sollen und ob die Augen offen oder zu sein müssen. Die Körperhaltung ist natürlich wichtig, aber die geistige Meditationshaltung ist wichtiger. Danach werde ich aber nicht gefragt, die Leute wollen nur wissen, wie sie durch die Nase atmen sollen, als ob dies ein Mysterium wäre.
Solange man sich eine Vorstellung von Leerheit macht, ist der Geist nicht leer. Wenn ihr absichtlich leer werden wollt, indem ihr die Augen schliesst, alle Geistesaktivitäten anzuhalten versucht, die Lippen zusammenpresst und den Atem kontrolliert, folgt ihr bloss eurer Vorstellung.
Wenn euch bei der Meditation der Gedanke kommt, nun sei euer Geist still, handelt es sich um Scheinmeditation. Jemand, der wirklich meditiert, denkt an nichts. Sein Geist gleicht dem ruhigen Mond am leeren Himmel. Wolken, Sterne, Wind, Frühling, Sommer, Herbst und Winter kommen und gehen, aber der stille Mond am Himmel bewegt sich nicht. Nur die vom Wind getriebenen Wolken bewegen sich.
In ruhiger Meditation kann man alle Aktivitäten des Geistes sehen und beobachten, von der Oberfläche bis zum Grund. Man muss es nur intensiv genug tun – ohne Ungeduld und mit Hingabe – bis der Geist kristallklar wird, und man sich nicht mehr mit den Gedanken, Bildern oder Emotionen identifiziert. Die Geistesaktivität stört einen dann überhaupt nicht mehr. Man kann sie objektivieren, als wäre es die Aktivität eines anderen Menschen. Schliesslich hört sie ganz auf. Dann ist man im leeren Geist absorbiert.
Erlaubt eurem Geist zuerst, sich frei mit dem Gedankenfluss und den auftauchenden Traumbildern zu bewegen, richtet die Aufmerksamkeit dann allmählich mehr und mehr auf das „Zentrum” hin, bis sie sich dort fest verankert. Dieses „Zentrum” ist kein materieller Punkt, es dehnt sich endlos in alle Himmelsrichtungen und durchdringt das ganze Universum. Versucht nicht, die Gedanken zu verscheuchen oder die Geistesaktivität anzuhalten – lasst einfach alles ziehen. Der Geist kommt nicht durch Gewalt zur Ruhe, noch dadurch, dass man seine Aktivitäten fürchtet oder flieht. Ruhe stellt sich ein, wenn man alle Aktivitäten genau beobachtet und durchschaut, ohne sich darin zu verlieren. Der wache Geist verblasst dabei nicht, aber die Geistesinhalte verblassen. Wenn ihr euch daran gewöhnt habt, eure Gedanken weder zu hassen noch zu lieben, werdet ihr überhaupt nichts mehr denken während der Meditation. Dann ist nur der reine Geist vorhanden, und der Körper besteht nur aus Knochen und Muskeln.
Wenn der vollständig zur Ruhe gekommene, gedankenleere Geist plötzlich durch die ihm innewohnende intuitive Intelligenz erhellt und kristallklar wird, erkennt man schlagartig seine Unermesslichkeit und Ichlosigkeit. Dies wird „Sicht in das eigene Urwesen” genannt.
Ich kenne einen Zen-Schüler, dem ich vor etwa dreissig Jahren zum ersten Mal begegnet bin. Sein „Guten Tag“ klang damals fade und schwach. Dreissig Jahre später begrüsste er mich laut und deutlich: „Guten Tag, wie geht es?“ Ich fragte ihn: „Hast du den leeren Geist gefunden?“ „Nein“, antwortete er, „es gibt nichts derartiges.“ Wir sahen uns in die Augen und lächelten.
Zusammengestellt aus div. Kapiteln von: Meister Sokei-an: Man sieht nur in der Stille klar; ISBN:3-9521915-7-4
Quelle: http://www.zzbzurich.ch/bibliothek/dhyana/d_2007_f.pdf ab Seite 5