The Root of Zen: Ein Interview mit David Hinton

  • Von RANDY ROSENTHAL und DAVID HINTON|
    Hab das Interview für mich mit deepl übersetzt und leicht angepasst. Vielleicht ist es für noch jemand interessant. Das Original war leider die letzten Tage nicht mehr erreichbar.

    Zitat

    Seit Jahrzehnten übersetzt David Hinton die alte chinesische Kultur ins Englische. Er begann mit den großen Dichtern - wie Li Po und Tu Fu - und übersetzte dann die vier Klassiker der chinesischen Philosophie: das Tao te Ching, das Chuang Tzu, die Analekten des Konfuzius und Mencius. Er war der erste Mensch, dem dies seit über einem Jahrhundert gelang, und wurde dafür von der American Academy of Arts and Letters mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Außerdem wurde er mit dem PEN-Preis für Poesie in Übersetzung ausgezeichnet und erhielt Stipendien der Guggenheim-Stiftung und des National Endowment for the Arts. Das heißt, er ist als nationaler Schatz anerkannt.


    Die Lektüre seiner Neufassungen klassischer Poesie und Philosophie ermöglicht einen zutiefst kontemplativen Geisteszustand - sie bewahren die dichte Zweideutigkeit des alten chinesischen konzeptionellen Denkens und wirken dennoch zeitgemäß. Doch seine neueren Prosabücher wie „Existence“ und „Hunger Mountain“ sind wahre Offenbarungen. Ganz gleich, ob er sich auf ein einzelnes chinesisches Landschaftsgemälde oder eine Wanderung auf einen Berg in der Nähe seines Hauses in Vermont konzentriert, Hinton öffnet den Kosmos und nimmt Sie mit in die Tiefen des Geistes.


    In seinen Büchern (die alle unter davidhinton.net zu finden sind) fügt Hinton oft alte Piktogramme und Ideogramme ein, um zu zeigen, wie sich ein chinesisches Schriftzeichen entwickelt hat, so dass wir das Wort als Konzept im Kontext des chinesischen Denkens verstehen können. In seinem jüngsten Buch, China Root, erklärt er beispielsweise, dass das Ideogramm für ch'an - die Transliteration des Sanskrit-Wortes für Meditation, dhyana - ursprünglich "Altar" und "Opfer für Flüsse und Berge" bedeutete. Meditation ist also ein Ort, an dem man die Landschaft - die Wildheit außerhalb und innerhalb - ehrt.


    Ein wichtiger thematischer Faden, der sich durch Hintons Bücher zieht, ist das chinesische Konzept von Abwesenheit und Präsenz als grundlegende Aspekte unserer Realität. In seiner Einleitung zum Tao te Ching schreibt er: "Lao Tzu sagt, dass die Gegenwart und die Abwesenheit einander gebären: Sie sind ein und dasselbe, aber sobald sie entstehen, unterscheiden sie sich im Namen. Und dort, bevor sie entstehen, wo sie ein und dasselbe Gewebe bleiben, ist der Weg jenseits aller Unterscheidung." Für Hinton geht es bei der Meditation darum, zu dieser undifferenzierten Bewusstseinsebene zurückzukehren, zum "generativen Existenzgewebe" des Universums. So wie Gebirgszüge entstehen und verschwinden, tun dies auch die Gedanken, und ein Meditierender beobachtet diesen Prozess der ständigen Entfaltung nicht nur, sondern nimmt daran teil. Diese geistige Aktivität, so argumentiert Hinton in China Root, ist die grundlegende Praxis des Ch'an-Buddhismus, der nach Japan kam und sich zum Zen entwickelte.


    Ich lernte den Buddhismus zuerst durch Zen kennen, durch Bücher von Shunryu Suzuki und Alan Watts und durch Besuche im Zen-Zentrum in Los Angeles. Aber nach Jahren der Vipassana-Praxis und des Studiums von Theravada-Texten kam mir der Verdacht, dass Zen viel mehr mit dem Taoismus als mit dem Buddhismus des Pali-Kanons gemein hat. Hintons China Root bestätigt diese Ansicht. Darin argumentiert er, dass der Buddhismus, als er im dritten bis fünften Jahrhundert n. Chr. nach China kam, "vom taoistischen Denken so verändert wurde, dass er, abgesehen von einigen institutionellen Merkmalen, kaum noch als Buddhismus erkannt wird". Weiter schreibt Hinton: "Letztendlich ist der Buddhismus nur ein Fetzen auf der Oberfläche des Ch'an".


    Da die amerikanische Zen-Tradition letztlich aus dem Ch'an hervorgegangen ist, was bedeutet diese Einsicht für einen heutigen Zen-Praktizierenden? In den Tagen der Unsicherheit nach den Wahlen rief ich Hinton an, um diese Frage zu erörtern und mehr über China Root zu erfahren. Ich hoffe, dass Ihnen das Gespräch ebenso viel Spaß gemacht hat wie mir. -Randy Rosenthal

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

  • Zitat

    Randy Rosenthal: Sie schreiben seit Jahrzehnten über taoistische Konzepte und übersetzen klassische chinesische Texte, aber dieses Buch scheint wie eine Wende zu sein - eine Hinwendung zum Buddhismus im Besonderen. Mit welcher Absicht haben Sie China Root geschrieben?


    David Hinton: Es ist Teil meiner fortlaufenden Erforschung der chinesischen Kultur und meiner Übersetzung dieser kulturellen Erkenntnisse ins Englische. Zuerst übersetzte ich eine Menge Gedichte, dann Philosophie. Und in letzter Zeit habe ich eine Reihe von Prosa-Büchern geschrieben. So war es nur natürlich, dass ich mich dem Ch'an zuwandte, denn das Ch'an ist ein wesentlicher Bestandteil der chinesischen Kultur. Ch'an, nur zur Erklärung, ist die ursprüngliche chinesische Aussprache des Ideogramms, das in Japan als Zen ausgesprochen wird. Wir nennen es Zen, weil es aus Japan nach Amerika kam.


    Jedenfalls hat das Ch'an den Geist all dieser Menschen, die ich übersetzt habe, wirklich geprägt. Als ich sie übersetzte, lebte ich auf einer tiefen Ebene in ihrem Geist, was mich erkennen ließ, wie Ch'an von innen heraus funktioniert. Schließlich wurde ich in die Ch'an-Texte hineingeführt. Das ist eine Möglichkeit, ganz tief in die chinesische Philosophie einzutauchen. Es ist die tiefste und destillierteste Form dieser Einsicht. Und es ist auch die tiefste und genaueste Darstellung der Realität, die ich kenne, des Bewusstseins und des Kosmos und der Beziehung zwischen ihnen. Und was mir wichtig ist: Es gibt uns nicht nur ein abstraktes philosophisches System, sondern eine Lebensweise.


    Meine Absicht ist es also, dieses Erkenntnissystem in englischer Sprache für jeden zugänglich zu machen, und auch für die Kultur im Allgemeinen - neue Ideen, die die westliche Geistesgeschichte voranbringen können. Ich denke dabei besonders an Künstler und Denker, die damit ihre Arbeit in interessante neue Richtungen lenken können. Auf diese Weise entwickeln sich Kulturen weiter, indem sie Ideen aus anderen Kulturen aufnehmen. Das geschah in den fünfziger und sechziger Jahren in großem Stil mit Zen und der alten chinesischen Kultur - auch wenn das Zen nur teilweise verstanden wurde. Und für Zen-Praktizierende soll China Root viele ursprüngliche Ch'an-Einsichten erschließen, die irgendwie verloren gegangen sind, als das Ch'an nach Japan und schließlich in den Westen abgewandert ist.


    Ich stolperte darüber, als ich Hunger Mountain schrieb, ein Buch über eine Wanderung auf einen Berg in der Nähe von hier [in Vermont], um alte chinesische Einsichten als unmittelbare Erfahrung zu beschreiben. Die Berglandschaft steht im Mittelpunkt der chinesischen Kultur: die Künste und auch das Ch'an. Jedenfalls begann ich über das wichtigste aller Koans nachzudenken, das so genannte Mu-Koan: "Hat ein Hund die Buddha-Natur?" In den englischen Übersetzungen lautet die Antwort immer "Mu", und so bleibt sie nur auf Japanisch. Und als ich den chinesischen Text las, wurde mir klar, dass Mu in der Tat ein großes philosophisches Konzept ist. Seine ursprüngliche chinesische Aussprache ist Wu, und ich übersetze es mit Abwesenheit - aber nicht in einem metaphysischen Sinn. Es gibt keine Metaphysik im Ch'an oder in der alten chinesischen Kultur. Es ist zu umfangreich, um es hier wirklich zu erklären, aber Abwesenheit bedeutet so etwas wie der Kosmos als ein einziges generatives Gewebe: also der Kosmos als eine "Abwesenheit" von individuellen Formen. Das verändert natürlich das Koan völlig.


    Ich habe darüber ein wenig in Hunger Mountain geschrieben. Aber diese überraschende Entdeckung brachte mich dazu, mir die Koan-Sammlung anzusehen, die das Mu-Koan enthält: das Tor ohne Tor (Wu-men Kuan; Jpn., Mumonkan). Es ist die am weitesten verbreitete Koan-Sammlung. Ich entdeckte, dass sie voll von grundlegenden Ch'an-Konzepten ist, von denen keines übersetzt worden war. Es gibt mindestens ein halbes Dutzend Übersetzungen, drei oder vier von Zen-Lehrern, und keine von ihnen erwähnt diese Konzepte, die gesamte konzeptionelle Struktur des Ch'an.


    Um also auf Ihre Frage zurückzukommen: China Root soll auch diesen konzeptionellen Rahmen aufzeigen, der im heutigen Zen zu fehlen scheint. Der Rahmen, der die Praxis des alten Ch'an geprägt hat: das, was ich im Titel als "ursprüngliches Zen" bezeichne.


    Randy Rosenthal: Zen gab es in Japan weit über ein Jahrtausend lang, bevor es in die USA kam. Was also soll ein zeitgenössischer Zen-Praktizierender mit diesem neuen Verständnis der Geschichte des Zen anders machen? Erwarten Sie zum Beispiel, dass die Zen-Zentren ihre Übersetzungen einiger dieser Konzepte oder die Meditationspraxis des Zazen ändern?


    David Hinton: Nun, es braucht das ganze Buch, um wirklich zu beschreiben, wie das alles funktioniert. Aber um es kurz zu machen: Dieses Buch begründet die Zen-Praxis in der Landschaft und im natürlichen Prozess. Das kommt vom Taoismus, Chinas ursprünglicher spiritueller Philosophie, die sich zum Ch'an entwickelte. Die Absicht der Ch'an-Praxis war es, als integraler Bestandteil der fortlaufenden Entfaltung des Kosmos zu verweilen. Davon, mit all seinen Implikationen, ist im Zen nicht wirklich die Rede.


    Es geht darum, unsere Ideen und Gewissheiten abzubauen, die mentale Maschinerie, die uns von der Welt um uns herum isoliert. Das ist eine ziemliche Herausforderung. Und wie ich am Anfang des Buches schreibe, braucht es einen wilden und furchtlosen Geist, um dies zu versuchen.


    Ich bin kein Evangelist. Es ist mir eigentlich egal, was andere tun. Für mich geht es um das Abenteuer der Ideen. Es ist nicht so, dass dieses Buch die Abläufe in den Zen-Zentren völlig verändern wird; es fügt nur diese Ideen in den Mix ein, all die tiefen philosophischen Grundlagen, die der Meditation und der Koan-Praxis zugrunde liegen. Und das kann die Art und Weise, wie man diese Dinge versteht, mit Sicherheit verändern.

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

  • Zitat

    Randy Rosenthal: Ihre einzigartigen Übersetzungen von Begriffen sprechen mich wirklich an. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie ich nach der Lektüre des Hunger Mountains durch den Wald ging und mich fühlte, als wäre ich "die Entfaltung des Daseinsgewebes", denn das ist der Ausdruck, den Sie verwenden. Und anstatt den üblichen taoistischen Begriff "Mysterium" zu übersetzen, verwenden Sie "dunkles Rätsel". Können Sie mehr über diese Begriffe und Konzepte sagen?


    David Hinton: Ja, Daseinsgewebe ist der Begriff, den ich für den Kosmos verwende, der als ein einziges generatives Gewebe gesehen wird, das, was Taoismus und Ch'an Tao nennen. Und das Wort dunkles Rätsel - es ist mit vielen vagen Begriffen übersetzt worden, aber es bedeutet im alten Chinesisch etwas sehr Spezifisches. Es bedeutet, dass die Existenz - das Gewebe - der Kosmos ist, bevor wir ihn benennen oder ihm Konzepte zuweisen. Daher "Rätsel" und die Notwendigkeit der Demontage von Ideen, sogar der Sprache selbst. Sobald wir Worte verwenden, wird die Welt objektiviert und von uns getrennt. Es geht also darum, diesen dunkel-rätselhaften Kosmos ohne Trennung zu bewohnen. Zu verweilen.


    Randy Rosenthal: Der Begriff selbst scheint den Verstand zu überfordern, weil er ungewohnt ist - er versetzt meinen Verstand in den Zustand eines dunklen Rätsels. Können Sie das für diejenigen klären, die Ihr Buch nicht gelesen haben: Von den Ursprüngen des dunklen Rätsels sprechen Sie über die Abwesenheit und dann über die Gegenwart, ist die Abwesenheit also dasselbe wie das dunkle Rätsel?


    David Hinton: Ziemlich genau. Diese grundlegenden taoistischen/Ch'an-Begriffe operieren auf wirklich tiefen kosmologischen und ontologischen Ebenen. Am Ende verschwimmen sie miteinander, aber sie werden verwendet, um verschiedene Aspekte der grundlegenden Natur der Dinge zu betonen.


    Der erste dieser Begriffe ist Tao, das den gesamten Kosmos als ein einziges generatives Gewebe in ständiger Transformation darstellt - so ziemlich der physische Kosmos, wie ihn die moderne Wissenschaft beschreibt, obwohl die Wissenschaft nicht oft auf diese Weise darüber spricht. Das Tao ist unterteilt in Abwesenheit und Gegenwart. Die Gegenwart ist einfach der empirische Kosmos in all seiner Vielfältigkeit: die zehntausend Dinge, wie die Chinesen sagen. Und die Abwesenheit ist eine schwangere Leere, aus der die zehntausend Dinge hervorgehen und in die sie beim Tod zurückkehren. Nicht in dem Sinne, dass es irgendwo einen Pool der Leere gibt - das gibt es nicht -, sondern im Sinne dieses Existenzgewebes Tao, das als ein einziges generatives Gewebe gesehen wird, während die Gegenwart dasselbe Gewebe ist, das in die zehntausend Dinge aufgeteilt ist. Sie sehen also, dass die Abwesenheit dem dunklen Enigma ziemlich nahe kommt. Aber wie Lao Tzu im ersten Kapitel des Tao Te Ching sagt, ist das dunkle Enigma das Existenzgewebe Tao, bevor Konzepte wie Abwesenheit und Gegenwart entstehen. Es ist Tao, bevor es Tao genannt wird.


    Randy Rosenthal: Wie wirkt sich dieses begriffliche Verständnis darauf aus, wie wir uns der Meditation in der Zen-Praxis nähern? In China Root beschreiben Sie die Meditation als "das Scharnier des Tao" oder als "Handeln als Quelle". Wie sieht es aus, "als Quelle zu handeln"? Sie sprechen von dieser empirischen Realität, aber es klingt metaphysisch, als Quelle zu handeln".


    David Hinton: Es gibt keine Metaphysik im Ch'an. Radikal keine Metaphysik in der Welt oder im Bewusstsein - wie im Geist.


    Das ist natürlich auf eine ganz wörtliche und empirische Weise wahr. Denn wie die moderne Wissenschaft weiß, ist der Kosmos entstanden, und es haben sich Sterne entwickelt. Sterne werden geboren und sie sterben, und wenn sie explosionsartig sterben, säen sie den Raum um sich herum mit Elementen, und diese Elemente bilden dann wieder Sterne. Unsere Sonne ist ein Stern der dritten Generation. Es entstanden Planeten, und auf den Planeten entwickelten sich Lebensformen. Und in den Lebensformen entwickelte der Kosmos Augen und Wahrnehmung und Verstand und den Homo sapiens und das menschliche Bewusstsein. Es ist also buchstäblich wahr: Wenn wir denken, sind wir der Kosmos, der selbst denkt. Und wenn wir etwas ansehen, sind wir der Kosmos, der sich selbst ansieht, der sich selbst spiegelt.


    Es ist also keine Metaphysik. Es ist strenger Empirismus. Und im Taoismus und im Ch'an geht es bei der spirituellen Praxis darum, das Bewusstsein in die Entfaltung des Tao zurückzubringen, was in modernen Begriffen die Entfaltung des Kosmos ist. Denn wir neigen dazu, uns als außerhalb davon zu betrachten: Wir denken über ihn als ein Außen, schauen ihn "da draußen" an.


    Bei der Meditation im Ch'an geht es nicht darum, in einen Zustand der Nirvana-Ruhe zu gelangen. Für das Ch'an bedeutet das, die fortlaufende Transformation des Tao zu blockieren, sich von ihm zu trennen. Stattdessen geht es bei der Meditation im Ch'an darum, das Bewusstsein wieder mit dem Tao zu integrieren, mit der fortlaufenden Entfaltung des Kosmos. Wenn Sie zusehen, sehen Sie, wie Gedanken aus dem Nichts auftauchen, sich entwickeln und wieder ins Nichts zurückkehren, genau wie die zehntausend Dinge. Das Bewusstsein ist also in der Tat Teil desselben Gewebes wie die empirische Welt. Es gibt überhaupt keine Trennung.


    Und Quelle ... Sobald man den Kosmos als ein einziges generatives Gewebe sieht, als einen fortlaufenden Prozess der Transformation, der aus der Transformation hervorgeht, als Dinge, die aus sich selbst heraus neue Dinge hervorbringen - dann sieht man, dass alles Quelle ist.


    Randy Rosenthal: Ich liebe diese Idee - Meditation als Bewusstsein, das sich in die fortlaufende Entfaltung des Kosmos reintegriert. Zur Verdeutlichung: Ich praktiziere Vipassana, und die Lehre besteht im Wesentlichen darin, das Entstehen und Vergehen von Körperempfindungen zu beobachten. Für mich ist das sehr empirisch. Aber wenn Sie von "generativem Existenz-Gewebe" oder "Meditation am Scharnier des Tao" sprechen, versuche ich immer noch, diese Begriffe auf dieselbe empirische Weise zu verstehen. Wenn ich das Entstehen und Vergehen meiner Empfindungen beobachte, beobachte ich dann tatsächlich mein generatives Existenzgewebe?


    David Hinton: Ja. Der Kosmos des Existenzgewebes ist auf geheimnisvolle, magische Weise und ohne jeden Grund generativ. Das ist die grundlegende Natur der Dinge. Man kann nicht weiter gehen, kann nicht fragen, wie oder warum. Es ist einfach so. Und das ist genau das, was man sieht, wenn man das Bewusstsein während der Meditation beobachtet. Und sobald die Gedanken verstummen, fängst du an, die leere Quelle der Gedanken zu sehen, die dasselbe dunkle, rätselhafte Gewebe ist, das die Quelle der zehntausend Dinge ist. Wieder die Quelle.


    Aber Ch'an geht noch weiter. Wie ich schon sagte, will Ch'an, dass wir unser tägliches Leben am Ursprung leben, dass wir als diese Quelle handeln. Das funktioniert in der Meditation, aber in der Koan-Praxis ist es noch deutlicher vorhanden. Das Ziel der Koan-Praxis im frühen Ch'an ist es, zu lernen, wie der Kosmos zu handeln, der sich aus der Quelle entfaltet. Dem Schüler werden Rätsel oder Fragen gestellt, und er muss lernen, darauf zu antworten, nicht durch abstraktes Denken und Analysieren, sondern aus dem Nichts heraus, aus dem leeren Geist, indem er direkt aus dieser Quelle handelt. Bei der Koan-Praxis geht es also darum, das Bewusstsein zurückzubringen, um es zu bewohnen, um als Teil dieser Entfaltung des Kosmos oder des fortlaufenden Prozesses des Tao zu verweilen.


    Zurück zur Meditation: Wenn die Gedanken vollständig aufhören und du als diese generative Leere, diese generative Quelle verweilst, dann kannst du als Kosmos handeln. Denn dann bist du an der Quelle, und was auch immer geschieht, kommt direkt aus der Quelle. Das ist der Moment, in dem sich die Meditation in eine unverwechselbare Ch'an-Form verwandelt, und das ist der Punkt, an dem die Koan-Praxis stattfinden kann.

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

  • Zitat

    Randy Rosenthal: Ich versuche zu sehen, wie das in der Welt aussieht. Bevor ich also dachte: Okay, ich handle spontan - oder als tzu-jan, ein Begriff, der normalerweise mit "Natürlichkeit" übersetzt wird, den Sie aber mit "aus sich selbst heraus erscheinende Erscheinung" übersetzen. Ist es das, was Sie meinen - Sie gehen einfach durch den Wald oder den Lebensmittelladen als eine Erscheinung, die aus sich selbst heraus entsteht?


    David Hinton: Ja, genau. Das ist es, was es sein könnte. Und das tut man, wenn man das scheinbar transzendente, identitätszentrierte Selbst losgeworden ist, mit dem wir die ganze Zeit herumlaufen und das uns von den Dingen getrennt hält. Diese Trennung ist größtenteils das Ergebnis der Sprache, insbesondere der Schriftsprache, die uns das Gefühl gibt, dass es dieses innere Reich gibt, das zeitlos und transzendent ist, völlig außerhalb der Welt der Veränderung. Das ist einer der Gründe, warum es bei der Meditation darum geht, Sprache und Gedanken zu überwinden. Von dort aus können wir uns durch den Tag bewegen, als "Ereignis, das von selbst erscheint". Und das fühlt sich ganz anders an - ein Gefühl von Isolation und Distanz zur Welt um uns herum, sondern von Zugehörigkeit, von Verweilen als integraler Bestandteil.


    Randy Rosenthal: Ich habe den Taoismus immer als das eine und den Buddhismus als das andere verstanden und sie parallel gehalten. Aber an einer Stelle in China Root schreiben Sie, dass Tao Dharma ist. Und dass Buddha Tao ist. Sollte ein Zen-Praktizierender diese taoistischen Konzepte als dasselbe verstehen wie ihre buddhistischen Konzepte?


    David Hinton: Dies ist einer der wichtigsten Punkte in China Root. Das amerikanische Zen sieht seine Tradition im Allgemeinen als einen Strom des Buddhismus, der in Indien begann, über China (mit einigen bedeutenden Entwicklungen), dann über Japan (wo er sich weiter entwickelte) und schließlich viele Jahrhunderte später nach Amerika gelangte, wo die Tradition vor allem von ihrem japanischen Vorläufer geprägt ist. In seinen Ursprüngen in China war das Ch'an jedoch im Wesentlichen ein Taoismus, der durch den aus Indien gekommenen Buddhismus bereichert wurde. Letztendlich war es ein Anti-Buddhismus.


    Der Taoismus ist die ursprüngliche spirituelle Philosophie Chinas und beginnt im sechsten Jahrhundert v. Chr. mit dem Tao Te Ching, aber eigentlich mit dem viel früheren I Ging. Ungefähr zu der Zeit, als der Buddhismus in China Fuß zu fassen begann, gab es eine neotaoistische Bewegung, die sich - wie es der Zufall so will - Dunkles-Rätsel-Lernen nennt. Das Dunkel-Enigma-Lernen konzentriert sich auf die tiefen kosmologischen und ontologischen Dimensionen des Taoismus. Wie die Konzepte, über die wir zuvor gesprochen haben - Tao als Kosmos, dieses generative Gewebe in ständiger Transformation. Als der Buddhismus aufkam, wurde er im Sinne des Dunkles-Rätsel-Lernen verstanden; einflussreiche Intellektuelle und Gelehrte kombinierten sie. Das ist der Beginn des Ch'an - des Zen - um 400 v. Chr.


    Wie wir bereits gesehen haben, verschwammen in diesen Tiefen des Dunkles-Rätsel-Lernen die grundlegenden Konzepte miteinander. Und dasselbe geschah mit den buddhistischen Konzepten, als sie in den taoistischen Rahmen aufgenommen wurden. Sie verschmolzen miteinander. Buddha als der große ursprüngliche Weise und Dharma als der wesentliche Körper der Einsicht - sie werden zu Tao.


    Das heißt, sie gehen vollständig in diesem taoistischen Begriffssystem auf, das die Begriffe auflösen will. Die Ch'an-Weisen sind also nicht an Buddha als historischer Figur oder Lehrer oder sonst etwas interessiert. Sie wollen ihn einfach zerreißen - den Buddha töten. Und dasselbe gilt für den Dharma, diesen heiligen Körper der Erkenntnis. Das interessiert sie nicht. Das ist genau das, was man abbauen und überwinden will.


    Das ist Teil des radikalen Individualismus des Ch'an. Was ich den Kern des Ch'an nenne, ist antiinstitutionell, anti-methodisch, anti-Konzept, anti-Antworten, anti-Gewissheit. Beinahe hätte ich dieses Buch so etwas wie "die Abrissbirne" genannt. So nenne ich die alten Ch'an-Meister, denn das ist es, worum es ihnen wirklich ging. Sie bauten nur Ideen auf, um sie zu demontieren. Nehmen Sie die konventionelle Idee der Meditation - am Ende wollten sie diese auflösen, weil Sie versuchen, die Bewegung der Gedanken zu stoppen, und das steht der Bewegung des Tao entgegen. Und Tao ist die absolute wortlose Lehre - der große wortlose Lehrer.

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

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    Und das fühlt sich ganz anders an - ein Gefühl von Isolation und Distanz zur Welt um uns herum, sondern von Zugehörigkeit, von Verweilen als integraler Bestandteil.

    Vielen Dank hierfür. Ich schlage eine Korrektur vor: Kein Gefühl von Isolation ...

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

  • Hmm ... ich frage mich, ob dieser 'Seiteneinsteiger' eigentlich mitgekriegt hat, was die insbesondere mit Seizan Yanagida und dem IRIZ (International Research Institute for Zen Buddhism) an der Hanazono-Universität verbundene Forschung der letzten ca. 60 Jahre über die Genese des Chan erarbeitet hat. Ob er das nicht kennt oder nur souverän ignoriert.


    Ich sehe da ein ähnliches Problem wie bei Roloff (auch ein Übersetzer ...), nämlich einen etwas begrenzten geistesgeschichtlichen Horizont in Bezug auf Buddhismus. Um Chan / Zen als geistesgeschichtliches Phänomen zu "verstehen", ist es mE deutlich sinnvoller, sich mit seinen Wurzeln im Sanlun (Madhyamaka), Weishi (Yogacara) und den einheimischen älteren chinesischen Schulen (Nehan zong, Tiantai und insbesondere Huayan) zu beschäftigen. Man sollte sich wenigstens etwas mit den Prajñāpāramitā Sūtras, dem Lankavatara und dem Nirvana Sūtra beschäftigen - und natürlich mit dem Plattform Sūtra. Das alles weitgehend zu ignorieren und stattdessen eine Herleitung aus dem Daoismus zu bemühen ist etwa so, als würde man Zen im Westen aus der christlichen Mystik herleiten wollen. Es gibt zwar Leute, die das tun bzw. versuchen - aber überzeugend finde ich das nicht.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Hmm ... ich frage mich, ob dieser 'Seiteneinsteiger' eigentlich mitgekriegt hat, was die insbesondere mit Seizan Yanagida und dem IRIZ (International Research Institute for Zen Buddhism) an der Hanazono-Universität verbundene Forschung der letzten ca. 60 Jahre über die Genese des Chan erarbeitet hat. Ob er das nicht kennt oder nur souverän ignoriert.


    Ich sehe da ein ähnliches Problem wie bei Roloff (auch ein Übersetzer ...), nämlich einen etwas begrenzten geistesgeschichtlichen Horizont in Bezug auf Buddhismus. Um Chan / Zen als geistesgeschichtliches Phänomen zu "verstehen", ist es mE deutlich sinnvoller, sich mit seinen Wurzeln im Sanlun (Madhyamaka), Weishi (Yogacara) und den einheimischen älteren chinesischen Schulen (Nehan zong, Tiantai und insbesondere Huayan) zu beschäftigen. Man sollte sich wenigstens etwas mit den Prajñāpāramitā Sūtras, dem Lankavatara und dem Nirvana Sūtra beschäftigen - und natürlich mit dem Plattform Sūtra. Das alles weitgehend zu ignorieren und stattdessen eine Herleitung aus dem Daoismus zu bemühen ist etwa so, als würde man Zen im Westen aus der christlichen Mystik herleiten wollen. Es gibt zwar Leute, die das tun bzw. versuchen - aber überzeugend finde ich das nicht.

    Was ich mich gerade frage ist: Hat Sudhana eigentlich schon selbst ein Buch geschrieben und all sein Wissen damit für andere verständlich gemacht? Wahrscheinlich nicht, denn die Zeit vergeht mit studiere und andere Kritisieren. Was hinterlässt DU?

    Aber ist wohl schriftlich wie ich, ist es erstmal weg ist es auch schon alt.

  • Das was Hinton behauptet, steht ja genau dem entgegen, was auch D.T. Suzuki schon als Fehldeutung vorgeworfen wurde: Dass Zen/Chan eigentlich z.B. bilderstürmend (ikonoklastisch) sei, wirklich alles an Dogmen über den Haufen zu werfen suchte - also im Grunde mit dem Buddhismus Schluss machte. Im frühen Zen lässt sich das zeigen, und selbst das Plattformsutra, das ja so früh nicht mehr ist, steht teils im Widerspruch zu der gängigen Praxis des japanischen Zen. Einer der wenigen japanischen Roshi, der auf das (notwendige) Wechselspiel von Abwesenheit und Gegenwart ("schwangere Leere", s.o.) immer wieder hinwies, war Joshu Sasaki. In den Teisho der meisten vom japanischen Zen geprägten Lehrer finde ich ein solches Verständnis nicht. Die Antaiji-Linie steht z B. gerade im Dialog mit einem Philosophen (Nagai), der ins Zentrum seiner Überlegungen die Frage gestellt hat, warum nur Ich mich als Ich sehen kann. Das ist etwas anderes als - wie Hinton - zu sagen, der Kosmos betrachte sich selbst. Im japanischen Soto-Zen kehrt das Selbst zum Selbst zurück (wie in jijuyu zanmai). Darum ist es auch so wichtig, dass Körper und Geist abfallen (shinjin datsuraku). Eine solche Vorstellung muss Bodhidharma, so verstehe ich Hinton, und den frühesten Chan-Adepten absurd vorgekommen sein. Auf subtile Weise verschiebt sich hier also die Gewichtung. Dieses Chan ist vorinstitutionell und lässt sich darum auch nicht an Sutren festmachen, die in ihrer jeweiligen Gewichtung ja schon von solchen Institutionen und Schulen abhängen. Auch ein "geistesgeschichtliches Verständnis" des Chan führt dann wieder nur zu einer Nach-Betrachtung, die "Offene Weite, nichts von heilig" trifft auf Tientai und Huayan schon nicht mehr zu (unabhängig davon, wann dieser Spruch selbst entstand). Hinton steht auch im Widerspruch zu Yanagida, der z.B. Bodhidharma (zugeschriebenen) "vier Eingänge in die Übung" als Umdeutung der vier Grundlagen der Achtsamkeit des alten Buddhismus ansieht, womit er letztlich wieder nur die Vorstellungen des japanischen Zen stützt, der sich über Bodhidharma auf den indischen Buddhismus zurückführen will. Hinton steht für Empirismus, Suzuki, Nagai und Yanagida waren der Metaphysik nicht abgeneigt (entlarvender Satz Yanagidas in seinem Vortrag Passion for Zen: "Die Religion (!), die mit Bodhidharma begann, ist vor allem reich an Fantasie.")

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

  • Ich habe nichts, was soll ich da wem "hinterlassen"? Ich kommentiere meine Wahrnehmungen und mit denen erledigen sich auch die Kommentare.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Das Buch war hier David Hinton: China Root schon einmal Thema. Einige Zeit danach hatte ich das Buch dann gelesen. Muss aber sagen, viel ist mir nicht im Gedächtnis geblieben.


    Hintons Ansatz, Chan mittels der "Etymologie" chinesischer Schriftzeichen verstehen zu wollen, fand ich wenig überzeugend. Das ist doch sein Ansatz oder erinnere ich mich da falsch, Keine Ahnung ? Ich weiß jetzt gerade nicht aus dem Kopf, wer es war der darauf hingewiesen hat, dass Chan-Missverständnisse manchmal auch darauf beruhen, dass nicht erkannt wurde wann ein Ausdruck Baihua (Umgangssprache) war und wann klassisches Chinesisch. Aber die Idee ggf. einen Baihua-Text anhand einer Etymologie, die teilweise 2 Tausend Jahre alt ist, verstehen zu wollen, ist meiner Erinnerung nach in China Root nicht überzeugend genug herausgearbeitet worden.

  • wirklich alles an Dogmen über den Haufen zu werfen suchte - also im Grunde mit dem Buddhismus Schluss machte.

    Ersteres lässt sich schon von Nagārjuna sagen (der nicht zufällig Eingang in die Patriarchen-Liste gefunden hat) und exakt dieses "über den Haufen werfen" findest Du ja z.B. explizit im Herzsutra. Implizit z.B. auch in der Upāya-Lehre des Lotossutra. So gesehen hat das ganze Mahāyāna "mit dem Buddhismus Schluss gemacht". Lange, bevor an Chan auch nur zu denken war. Und - sorry, aber ein "vorinstitutionelles Chan" klingt mir doch ziemlich spekulativ, dafür würden mich dann schon die Belege des "Empirikers" Hinton interessieren.


    Aber mal was anderes. In China entstand ja, um die Inkonsistenzen zwischen verschiedenen buddhistischen Lehrsystemen zu erklären, eine Disziplin doktrinärer Taxonomie. Diese Systeme (panjiao 判教) wurden insbesondere im Weishi (z.B. Paramārtha), Tiantai (beginnend mit Zhiyi) und Huayan entwickelt. Der 3. Huayan-Patriarch Fazang war Zeitgenosse Huinengs; der 5. Patriarch Zongmi gehörte gleichzeitig zu Shenhuis Chan-Linie (Heze Chan); beides auch 'Taxonomen'.


    Ist es nicht irgendwie eigenartig, dass in den jüngeren (mit Chan koexistierenden) Klassifizierungssystemen Chan nie als ein 'Krypto-Daoismus' kritisiert wurde, sondern selbstverständlich als buddhistische Schule verstanden wurde? Ein solcher Vorwurf findet sich nicht einmal in den Tiantai-Polemiken gegen Chan (genauer: gegen eine zu große Nähe des Shanwai-Zweigs zum Chan) in der Song-Zeit (vgl. https://journals.ub.uni-heidel…icle/download/8820/2727/0). Die Wechselwirkung von Daoismus und Buddhismus sollte man mE doch etwas differenzierter betrachten. Zur Einführung: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02427046/document

    OM MONEY PAYME HUNG

    Edited once, last by Sudhana ().

  • Aber mal was anderes. In China entstand ja, um die Inkonsistenzen zwischen verschiedenen buddhistischen Lehrsystemen zu erklären, eine Disziplin doktrinärer Taxonomie. Diese Systeme (panjiao 判教) wurden insbesondere im Weishi (z.B. Paramārtha), Tiantai (beginnend mit Zhiyi) und Huayan entwickelt. Der 3. Huayan-Patriarch Fazang war Zeitgenosse Huinengs; der 5. Patriarch Zongmi gehörte gleichzeitig zu Shenhuis Chan-Linie (Heze Chan); beides auch 'Taxonomen'.


    Ist es nicht irgendwie eigenartig, dass in den jüngeren (mit Chan koexistierenden) Klassifizierungssystemen Chan nie als ein 'Krypto-Daoismus' kritisiert wurde, sondern selbstverständlich als buddhistische Schule verstanden wurde?


    Ich finde, dies ist ein sehr guter Punkt.

    • Official Post
    Zitat

    China Root, erklärt er beispielsweise, dass das Ideogramm für ch'an - die Transliteration des Sanskrit-Wortes für Meditation, dhyana - ursprünglich "Altar" und "Opfer für Flüsse und Berge" bedeutete. Meditation ist also ein Ort, an dem man die Landschaft - die Wildheit außerhalb und innerhalb - ehrt.


    Es ist leicht verwegen mit solchen Wortherkünften an religiöse Themen heranzugehen.


    Das deutsche Wort "Seele" ist mit dem Wort "See" verwand, weil es bei den germanischen Völkern teilweise die Idee gab, dass der Geist vor der Geburt und nach dem Tod in Gewässern verweilt.


    Während diese enge gedankliche Verwandtschaft zwischen Geist und Wasser einem vielleicht hilft alte einheimische Mythen ( z.B die Rolle des Brunnens im Märchen von Frau Holle) zu entschlüsseln, würde es beim Verständnis des christlichen Jenseitsvorstellung in die Irre führen. Diese wurden importiert und lediglich mit dem vorhandenen Wort übersetzt.

  • Wenn man von dem X.-ten Patriarchen spricht, bewegt man sich bereits wieder im institutionellen Zen, nicht im frühen Chan. Diese ganze Linienhaftigkeit ist eine Rückwärtsprojektion auf ein Geschehen, wo sich ein paar Leute um einen anderen scharten und - wenn ich z.B. Broughtons Übersetzung heranziehe - den Buddhismus auf den Kopf stellten. Bei Nagarjuna war das keineswegs in dieser Dimension geschehen, der hat im Wesentlichen Nikaya und Agama interpretiert. Nagarjuna wird im Allgemeinen ebenfalls zur Metaphysiker-Fraktion gerechnet. Auch im Herzsutra bleibt die letzte Wahrheit ja dem menschlichen Verständnis entzogen, "gate gate paragate ..." ist m.E. nicht das, was Hinton mit empirisch anspricht, sondern ebenfalls Metaphysik. Was andere dann daraus machen und warum, ist eine andere Frage, jedenfalls ist es m.E. richtiger, von den Texten selbst zu schließen als von den Eigeninteressen anderer Schulen oder "Linienhalter" oder ihrer Taxonomien. Selbst das Plattformsutra, von wem es auch immer stammt, ist dann eine Schrift, die sich dem Buddhismus entzieht, da die Pointe Huinengs ja darin besteht, dass es gar keiner Bereinigung von Befleckungen (Staub) mehr bedarf. Tatsächlich durchgesetzt hat sich dann im Laufe der Zengeschichte dagegen vor allem die "Linie" des von ihm "verbesserten" Dharma-Erben, so dass man auch heute noch beobachten kann, wie sehr Zen-Praxis sich mit dem Beseitigen moralischer Mängel beschäftigt, was im Taoismus (und im Plattformsutra) ja schon als Ausdruck eines Problems betrachtet wurde.


    Taoistischer Einfluss auf Hua Yen: thezensite:The Taoist Influence on Hua-yen Buddhism

    Über die taoistischen Ausdrücke zur Beschreibung buddhistischer Konzepte: Fowler: Zen Buddhism (2005)

    Wing Tsit Chan zur Transformation des Buddhismus in China: thezensite: Transformation of Buddhism in China

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

  • die Transliteration des Sanskrit-Wortes für Meditation, dhyana

    [Zitat nicht direkt von void, sondern aus einer Infobox.]

    Nur aus reiner Neugier, ohne das ich dem Bereich irgendeine Ahnung hätte: Ist "Meditation" da tatsächlich die richtige Übersetzung? Im Pali nennt man die Meditation "Bhavana", Kultivierung. "jhāna" wäre ein Zustand während/innerhalb dieser Übung.

  • Ich übersetze hier mal den Wiki-Eintrag zur Etymologie des Wortes:


    Dhyāna, Pali jhana, aus der proto-indo-europäischen Wurzel *√dheie-, : sehen, schauen, zeigen. Entwickelt zur Sanskrit-Wurzel √dhī and n. dhī, was in frühesten Textschichten der Veden "erfinderische Vorstellungskraft" bedeutet und mit der Gottheit Saraswati verbunden wird, deren Kräfte in Wissen, Weisheit und poetischer Eloquenz liegen. Weiterentwickelt zur Variante √dhyā, "kontemplieren, meditieren, denken", von der dhyâna abgeleitet wurde.

    Laut Buddhagosa stammt der Ausdruck jhâna (skt. dhyâna) vom Verb jhayat, "denken, meditieren", während das Verb jhapeti "verbrennen" seine Funktion erklärt, nämlich gegensätzliche Stadien zu verbrennen oder die "geistigen Befleckungen, die das Entwickeln von Gleichmut und Einsicht verhindern."

    Weithin als Meditation übersetzt, wird es oft als "Konzentration" verstanden, obwohl Meditation auf einen weiten Bereich von Übungen zur Entwicklung (bh1avanâ) verweisen kann. Dhyâna kann auch heißen: Aufmerksamkeit, Gedanken, Reflektion.

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

  • Wenn man von dem X.-ten Patriarchen spricht, bewegt man sich bereits wieder im institutionellen Zen, nicht im frühen Chan. Diese ganze Linienhaftigkeit ist eine Rückwärtsprojektion auf ein Geschehen, wo sich ein paar Leute um einen anderen scharten und - wenn ich z.B. Broughtons Übersetzung heranziehe - den Buddhismus auf den Kopf stellten.

    Okay, damit wird etwas deutlicher, was Du mit "institutionellem" Chan meinst - ein Begriff, den ich nicht für sonderlich passend halte. Anscheinend sprichst Du von der formativen Periode - wobei diese Formierung ja durchaus unter institutionellen Rahmenbedingungen (also in Klöstern) stattfand. Wenn man in dieser Zeit von 'Schulen' spricht, bezieht sich das auf unterschiedliche exegetische Traditionen in einem gemeinsamen institutionellen Rahmen.


    Dass die 'Patriarchenlinien' und die frühe Chan-Geschichte auf deutlich späteren Narrativen beruhen, also konstruiert sind, ist ja nun nicht neu; dies herausgearbeitet zu haben, ist ja vor allem das Verdienst der "Yanagida-Schule" (u.a. McRae, Adamek, Schlütter, App ...). So lückenhaft die Quellen sind, zeichnet sich doch ab, dass die 'Formierung' ein Prozess war, der sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speiste - 'nördliches Chan', Baotang, Heze, Niutou ... - und wahrscheinlich einige mehr, über die die Quellen schweigen. Was sie einte, war vor allem die Opposition gegen einen Buddhismus, für den das 'dreifache Studium' (von Sila, Prajna und Dhyana) gleichbedeutend war mit dem Studium des Vinaya, der Sastras und der Sutren. Wegweisend für Chan war da vor allem die Formel des Platform-Sutra vom 'formlosen dreifachen Studium' - auf wen auch immer die konkret zurückgehen mag.


    Mit "Broughton" beziehst Du Dich vermutlich auf seine Übersetzung und Kommentierung der Bodhidharma zugeschriebenen Dunhuang-Manuskripte.. Dein Insistieren, da sei der Buddhismus "auf den Kopf gestellt" kann ich ohne konkretes Beispiel nicht nachvollziehen. Zumal die Bodhidharma-Legende sich erst in der Tang-Zeit bildete. Bezeichnend ist, dass sich in der klassischen Chan-Literatur keine direkten Bezüge auf diese - zweifellos älteren - Texte finden. Dafür wird Bodhidharma konkret mit dem Lankavatara-Sutra in Verbindung gebracht - sogar in der Form, dass nicht nur die Robe sondern auch dieses Sutra Zeichen der Dharmaübertragung waren. Das findest Du auch bei Broughton (The Bodhidharma Anthology, p. 62 - hier Deepl-Übersetzung):

    Zitat

    Am Anfang nahm Dhyana-Meister Bodhidharma das vierbändige ['in vier Schriftrollen'] Lanka Sutra, übergab es Hui-k'o und sagte: "Wenn ich das Land

    China untersuche, ist es klar, dass es nur dieses Sutra gibt. Wenn du dich beim Üben darauf verlässt, wirst du in der Lage sein, die Welt zu überqueren."

    Hört sich jetzt für mich nicht nach "Buddhismus auf den Kopf stellen" an. Und Bezüge zum Daoismus findest Du in diesen Texten natürlich auch nicht - wer auch immer sie verfasst hat ...

    Zitat

    Die eigentlichen Anfänge des Chan sind jedoch wahrscheinlich auf den chinesischen Mönch Daoxin (580-651) und seinen Schüler Hongren (601-674) zurückzuführen, die beide im Kloster Huangmei (wörtlich "Gelbe Pflaume") auf dem Ostberg im heutigen Hubei tätig waren und nicht direkt mit Bodhidharma in Verbindung gebracht werden können. Obwohl wir die Lehren von Daoxin und Hongren nur aus späteren Quellen kennen, scheinen sie beide großen Wert auf Meditation und den Begriff inhärenter Buddha-Natur gelegt zu haben.

    (Morten Schlütter in seiner Einleitung des Sammelbandes 'Readings of the Platform Sutra', Deepl-Übersetzung)

    Für unser Thema von Interesse ist in diesem Sammelband insbesondere der Beitrag von Henrik Hjort Sørensen, 'The History and Practice of Early Chan' (pp. 52-76). Ebenfalls empfehlenswert 'The Northern School and the formation of early Ch'an Buddhism' von John McRae.


    Wenn Du Dir mal Wendi Adameks 'The Mystique of Transmission. On an Early Chan History and his Contexts' anschaust, findest Du in der Übersetzung des Lidai fabao ji, einem frühen Beispiel der Yulu-Literatur (über Baotang Wuzhu, den das spätere Chan-Narrativ ignorierte) übrigens jede Menge Sutren-Zitate - wobei Wuzhu ein ausgesprochen radikaler Chan-Meister war.


    Was dies hier angeht:

    wie sehr Zen-Praxis sich mit dem Beseitigen moralischer Mängel beschäftigt, was im Taoismus (und im Plattformsutra) ja schon als Ausdruck eines Problems betrachtet wurde.

    ... würde ich empfehlen, sich Sektion 20-23 des Platform-Sutra (Dunhuang-Version) mal anzuschauen (in der McRae-Übersetzung von TT2008 ab Seite 46). Der Huineng des Platform-Sutra vertritt dort nicht nur eine Doktrin der 'formlosen Gelübde' und leitet diese von der Prajñāpāramitā-Lehre ab, er überträgt die formlosen Gelübde auch in einer Zeremonie auf seine Zuhörer.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Taoistischer Einfluss auf Hua Yen: thezensite:The Taoist Influence on Hua-yen Buddhism

    Über die taoistischen Ausdrücke zur Beschreibung buddhistischer Konzepte: Fowler: Zen Buddhism (2005)

    Wing Tsit Chan zur Transformation des Buddhismus in China: thezensite: Transformation of Buddhism in China

    Taoistischer Einfluss auf Shinran: Zhuangzi and Shinran
    Auch von Basho wird erzählt, dass er nie ohne sein Zhuangzi aus dem Haus gegangen sei.

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

    Edited once, last by Keine Ahnung ().


  • Das ist etwas anderes als - wie Hinton - zu sagen, der Kosmos betrachte sich selbst.

    Das halte ich für eine der schwächeren Aussagen bei ihm. Da wird für mich der Kosmos zu sehr vermenschlicht (und verdinglicht).

    Ich seh aber schon auch in frühen Zentexten (Xin Ming, Xin Xin Ming) eine größere Wertigkeit des Geistes als bei Zhuangzi & Co. Wenn sie ansonsten auch ihm sehr ähnlich sind.

    Zu Wuzhu: Sicher hat er buddhistisches zitiert. Er hat aber auch genauso Laozi zitiert (ohne ihn zu erwähnen).

    "Beim Lernen wächst jeder Tag um Tag, beim Üben des Weges schrumpft er Tag für Tag. Es mindernd und immer mehr mindernd, gelangt einer schließlich zum Nicht-Handeln." Ebenso wirkt seine Betonung von Selbstvergessenheit recht daoistisch an.

    Und gerade Stellen wie "Nichterzeugen ist Ch'an", seine Betonung von Nicht-Tun und Nicht-Erlangen, Absichtslosigkeit seh ich schon deutlichen Unterschied zum frühen Buddhismus und eine gefühlte Nähe zum Daoismus. (Aber auch gerade dort, wo er buddhistische Texte zitiert, hab ich den Eindruck, er liest sie aus einer daoistisch inspirierten Sicht heraus). Bei späteren Ch'an und Zen seh ich aber dann durchaus große Unterschiede zu daoistischen (So die Betonung des Weichen, des Weiblichen findet man da eher weniger). Andererseits findet man selbst bei Dogen noch Ansätze des Selbstvergessens und des von den 10000 Dingen durchdrungen werdens.

    (Ganz nebenbei und freilich völlige Spekulation: Ich würde einen Einfluss von den Lehren des Wuzhu auf Dzogchen nicht ausschliessen).

    "Im letzten Jahr ihres Lebens sagte meine Mutter im Alter von 95 mehrmals: "Es ist befreiend zu erkennen, dass nichts wirklich eine Rolle spielt." Sie sagte es freudig, erleichtert, so, als ob sich eine Last (auf)gehoben hätte."


    Joan Tollifson

    Edited 2 times, last by Keine Ahnung ().

  • Dass es daoistische "Einflüsse" auf den ostasiatischen Buddhismus (nicht nur Chan / Zen) gab, ist ja unbestritten und im Kontext Akkulturation / Inkulturation auch unvermeidlich - wobei der Einfluss des Buddhismus auf den Daoismus (das ist ja nicht nur Laozi, Zhuangzi und Liezi ...) eher noch größer war als umgekehrt. Eine knappe Einführung mit weiterführenden Literaturverweisen habe ich ja auch verlinkt.

    Das alles belegt aber nicht Hintons These, Chan sei ein Krypto-Daoismus. Und mal grundsätzlich - wer solche Thesen mit seinen persönlichen Deutungen von Gongan / Koan stützen will (wie es ja auch Roloff tut), hat den Boden wissenschaftlichen Argumentierens verlassen. Mit empirischer Evidenz hat das nichts mehr zu tun.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Es ist leicht verwegen mit solchen Wortherkünften an religiöse Themen heranzugehen...


    Das finde ich auch. Und gerade in Bezug auf Buddha wird idR das Gegenteil erzählt. Er hat bestehendes Vokabular übernommen und mit neuem Inhalt versehen. Nach Hinton scheint mir sollten wir Karma usw. nicht im Sinne des Buddha lesen, sondern vedisch oder etymologisch.


    Ich weiß jetzt gerade nicht aus dem Kopf, wer es war der darauf hingewiesen hat, dass Chan-Missverständnisse manchmal auch darauf beruhen, dass nicht erkannt wurde wann ein Ausdruck Baihua (Umgangssprache) war und wann klassisches Chinesisch.


    Obiges war nicht gut genug erinnert:


    Quote from Broughton, Watanabe (2013): The Record of Linji

    Iriya [Yoshitaka] concluded that most of the mistakes made in reading Chan records in the Zen monasteries of Japan and in pre-war scholarship, which he typically refers to as “the usual or conventional reading” (jūrai no yomi 従来の読み) or “the old understanding” (kyūkai 旧解), had been the result of not distinguishing between baihua and wenyan (literary Chinese). {Broughton 2013 #5112D: 25}

  • Dass es daoistische "Einflüsse" auf den ostasiatischen Buddhismus (nicht nur Chan / Zen) gab, ist ja unbestritten ...


    In der chinesischen Philosophie gibt es das Konzept von Substanz-Funktion 體用, welches im Laufe der Zeit unterschiedlich verstanden wurde. Die Substanz, der Körper 體用 ist der Buddhismus, der sich im Zen dann auch auf eine chinesisch-daoistische Art und Weise 用 ausdrückt. Nicht andersherum.

  • Keine Ahnung hat es auf den Punkt gebracht: Die Lesart genannter Chan-Adepten wie Wuzhu des überlieferten Buddhismus ist nach dieser Ansicht taoistisch geprägt. Da niemand dabei war, wird sich diese Diskussion endlos weiterdrehen. Ich hatte ja ebenfalls Quellen genannt, die wissenschaftliche Meinung geht da auseinander und ist nicht eindeutig, wie hier jemand den Eindruck vermitteln will. McRae etwa ordnet die Bodhidharma-Clique noch einem "Proto-Chan" zu und definiert frühes Chan dann inklusive der klösterlichen Veränderungen, d.h. man bekommt vielleicht (?) sogar den Eindruck, das Wesentliche Chan sei mit "Proto" noch gar nicht entstanden. Liest man die Broughton-Texte, so findet man z.B. Zitate, die Karma als Hirngespinst nahelegen: "Als Mensch in die Hölle zu fallen bedeutet, im Geist ein Ego zu erschaffen. Wenn die Menschen sagen: 'Ich tue Schlechtes, also erfahre ich Bestrafung; ich tue Gutes, also empfange ich Belohnung', dann ist dies übles Karma. Von vornherein haben solche Dinge nicht existiert, doch die Menschen unterscheiden und behaupten willkürlich, es gäbe sie. Genau darin liegt das üble Karma."


    Vorher wurde versucht, Roloff und Hinton als "Übersetzer" zu markieren, beide sind jedoch auch Praktizierende. Roloff praktiziert Zen, Hinton offensichtlich eine taoistische Sicht, wie eigene Bücher von ihm zeigen. Bei beiden vermute ich stark, dass sie Widersprüche ihrer Praxis mit dem, was ihnen beigebracht wurde oder gängige Überlieferung ist/war, feststellten. Das ist Empirie, also "sinnlich verinnerlichte Erfahrung". Daraufhin haben sie die Textquellen anders betrachtet. Das kann wiederum eine Anregung für andere sein, die auf dem alten Weg nicht weiterkommen und z.B. einige der Zitate so interpretieren wie oben.


    Die zitierte Stelle aus Broughton gehört zur Kommentarliteratur ("Huiko B"). Hier hat sich laut Broughton bereits eine Verschiebung der Interpretation vollzogen. Bodhidharma hat laut Broughton aus dem Lankavatara-Sutra neben dem "Zeigen auf den Geist" vor allem abgeleitet, dass eine Übertragung außerhalb von Schriften stattfindet. Das heißt die Schrift dient zu ihrer eigenen Überwindung. Wenn Bodhidharma ein Sutra weitergab, dann also in der Hoffnung, dass spätestens dadurch der so Beschenkte erkannte, dass er keines Sutras bedarf. Die Handlung der Weitergabe ist also paradox. Wer das nicht erkennt, versteht die Zen-Überlieferung nicht.


    Quote


    Die eigentlichen Anfänge des Chan sind jedoch wahrscheinlich auf den chinesischen Mönch Daoxin (580-651) und seinen Schüler Hongren (601-674) zurückzuführen, die beide im Kloster Huangmei (wörtlich "Gelbe Pflaume") auf dem Ostberg im heutigen Hubei tätig waren und nicht direkt mit Bodhidharma in Verbindung gebracht werden können.

    Eben. "Wahrscheinlich", ergo, es gibt keine Übereinkunft. Und "Kloster", das heißt, hier wurde bereits die Institutionalisierung vorgenommen (man erinnere sich an die Bodhidharma-Legende: Der Mann, der außerhalb des Klosters für sich saß, obwohl der Shaolin-Tempel in Reichweite war).


    Ebenso ist der Huineng, der formlose Gelübde überträgt, nicht mehr der Huineng, der sein Erwachtsein bestätigt bekam, sondern ein Huineng in Rituale eingespannt (ganz abgesehen davon, dass es vom Plattformsutra mehrere Versionen gibt und die Stelle hier nicht zitiert wurde, so dass ich sie mit meiner Version nicht vergleichen kann). Dass diese Leute religiöse Dinge taten, ist ja nicht weiter verwunderlich, den gleichen Zwängen sind ja noch heute viele Zenlehrer ausgesetzt. Das ist aber nicht, was ihm bestätigt wurde und was ihn - der Legende nach - zum Dharma-Erben machte. Das ist nicht seine wesentliche Botschaft. Man kann Sebastian Vettel auch nicht vorwerfen, dass er im Straßenverkehr Geschwindigkeitsbeschränkungen einhält - oder anders gesagt: Dass er am Straßenverkehr überhaupt teilnimmt. Ein Huineng, der sich zunächst versteckte, hat in dieser Phase offenbar anderes zu tun gehabt, und er musste solches auch nicht tun, um überhaupt erst bestätigt zu werden. Das heißt, bei der Lesart dieses Chan ist die Frage, was außerhalb der Schriften und Rituale übertragen wurde, und eben nicht, welche Schriften und Rituale. Der Taoismus kennt diesen Ballast ja auch. Wenn man diese Frage nicht stellt, bewegt man sich in einem endlosen Kreislauf von Formalitäten und verwechselt dann noch den Sinn der buddhistischen Praxis, nämlich Empirie, also Erfahrungswissen, mit Wissenschaft.


    Schließlich ist Wuzhu ein weiteres Beispiel, um diese unterschiedlichen Ansätze und Lesarten zu verdeutlichen. Oben wird dadurch, dass Wuzhu Schriftenkenner war, unterstellt, er habe den Buddhismus nicht hinter sich gelassen. In dem genannten Werk von Adamek ist aber eine der entscheidenden Textstellen diese:


    "Der Ehrwürdige Kim sagte: ‚Nur Nicht-Rückbesinnen, Nicht-Denken und Alles-Aufgeben, klar und weit – sieh mal, ob dann deine Eltern noch da sind oder nicht.‘ Dies ist gewiss, was er damals sagte, aber ich verstehe es noch immer nicht. Nun gebe ich es an Euch weiter.“ Als Wuzhu diese Lehre hörte, verstand er sie eindeutig und begegnete so dem Ehrwürdigen Kim aus der Ferne von Angesicht zu Angesicht."


    Diese Formulierung "verstand er eindeutig" und "begegnete dem Meister von Angesicht zu Angesicht" steht für ein erstes Erwachen. Was Wuzhu hier verstand, war nicht irgendein Sutra oder ein Ritual, sondern Nicht-Rückbesinnen, Nicht-Denken und Alles-Aufgeben.


    Man kann nicht ernsthaft glauben, dass alles aufzugeben für einen Praktizierenden nicht auch den Buddhismus umfasst. Darum lehrte Wuzhu dann selbst, man könne sich nicht auf formale Praxis verlassen und wer rezitieren wolle, solle gehen: "Wollt ihr aber bei mir sein, müsst ihr euch gänzlich dem Nicht-Denken hingeben." Man hätte diesen Lehrern auch die Klöster, Roben und Rituale unterm Arsch wegziehen oder verbieten können, was entscheidend geblieben wäre, ist das "Zeigen auf den Geist", die Übung des Geistes, die darauf hinausläuft, dass man - wie im Taoismus - die Dinge (Gedanken) fließen lässt und nicht festhält.

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

    Edited once, last by Bebop: Je nach Verständnis des Wortes "proto" ... ().

  • Quote from Hinton, David (2020): China Root

    So Ch'an was less Buddhism than a rebellion against Buddhism. And in the end, it is most accurately described not as Buddhism reconfigured by Taoism, but as Taoism reconfigured by a Buddhism that was dismantled and discarded after the reconfiguration was complete. {Hinton 2020 #4484D: 7–8}


    Für mich geht es darum, ob


    a) die Aussage chinesischer Zen wäre angepasster Daoismus richtig ist und

    b) Hinton diese Aussage überzeugend begründet.


    Mir ist noch nicht ganz klar, wofür du eigentlich argumentierst, Bebop .