Ist der Buddhismus ein Idealismus?

  • In der "BODHICITTAVIVARANA - Erläuterung des Erleuchtungsgeistes" schreibt Nagarjuna folgendes über die Nur-Geist-Schule:

    Das heißt er lehnt die Ansicht, dass es so etwas wie einen objektiven Geist gibt, ab. Nach Nagarjuna hat der Buddha dies zwar gelehrt, jedoch aus dem Motiv, sich an seine Zuhörerschaft anzupassen. Seine Sicht scheint zu sein, dass das Wesen der Dinge die Leerheit sei und dass der Geist ungeschaffen (und damit ewig?) sei.


    Nagarjuna lehnt die Möglichkeit, dass sich das Bewusstsein in einer Selbstbezüglichkeit selbst erkennen könnte, ab. Dadurch dass das Bewusstsein - selbst das achte und vermeintlich grundlegende Bewusstsein - immer in Bewegung sei, könne es sich nicht selbst zum Gegenstand werden.


    Mir erscheint diese Argumentation zumindest sehr angreifbar. Man könnte da zum Beispiel die Unterscheidung von "Ich" und "Selbst" einführen, wie das z.B. Mead getan hat. Das Ich als spontane und unmittelbare Gegenwärtigkeit, kann sich des Selbst als vergegenständlichter Form der sozialen Erfahrungen bewusst sein. Oder man könnte die soziale Interaktion in der wechselseitigen Anerkennung zwischen Individuen als Basis der Selbsterkenntnis ansehen, wie das etwa Hegel tat.

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Seine Sicht scheint zu sein, dass das Wesen der Dinge die Leerheit sei und dass der Geist ungeschaffen (und damit ewig?) sei.

    Wie kann Ungeschaffenes ewig sein, wenn Geschaffenes unbeständig ist?

    Werder Leerheit noch Geist kann ungeschaffen sein, denn sie werden vom Verstand geschaffen.

    Man könnte da zum Beispiel die Unterscheidung von "Ich" und "Selbst" einführen, wie das z.B. Mead getan hat. Das Ich als spontane und unmittelbare Gegenwärtigkeit, kann sich des Selbst als vergegenständlichter Form der sozialen Erfahrungen bewusst sein.

    Was gibt bei dieser Unterscheidung Realität im Leben?

    Das Ich, Selbst, Geist, Verstand bleibt temporär und gewinnt nur eine scheinbare Beständigkeit durch den Verstand.

    Heißt nicht, dass die Unterscheidung nicht echt ist, aber nur Gedankengebäude ohne beständige Substanz.

  • Dass das Bodhicittavivaraṇa von Nāgārjuna stammt, ist (zurückhaltend gesagt) umstritten; ich persönlich halte die Zuschreibung für grob anachronistisch. Wobei Prof. Christoph Lindtner (der den Text für authentisch hält) generell recht großzügig mit dem Prädikat 'authentisch' bei Nāgārjuna zugeschriebenen Texten ist. Für die Gegenposition steht hier insbesondere Dr. Carmen Dragonetti, die das BV als eklektisch und synkretistisch einstuft und auch insbesondere Zitate aus Maitreyas Madhyāntavibhāga nachgewiesen hat.


    Wenn der Nāgārjuna, von dem die Mūlamadhyamakakārikā stammen, im 2. Jhdt. n.d.Z. lebte (was in der Forschung als einigermaßen gesichert gilt), dann trennen ihn über 200 Jahre von Vasubandhu und Asaṅga - und damit von der hier (angeblich von Nāgārjuna) in den Versen 26 - 56 kritisierten Cittamātra - Schule. Prof. Lindtner interpretiert diese Verse als Kritik am Laṅkāvatārasūtra, das er für älter als Nāgārjuna hält - womit er freilich eine extreme Außenseiterposition bezieht, nur um die Zuschreibung zu "retten". Prof. Jikido Takasakis Datierung des Laṅkāvatāra in das 4./5. Jahrhundert ist hingegen weitgehend akzeptierte Lehrmeinung.


    So viel zum angeblichen Autor. Der mag zwar auch Nāgārjuna geheißen haben (eher unwahrscheinlich), aber er lebte 2 - 3 Jahrhunderte nach dem Autor der MMK. Das ist ein bißchen so, als würde man eine Kritik des Existentialismus von Immanuel Kant präsentieren. Das fällt dann wohl unter siddhi - oder man muss einen Fall extremster Langlebigkeit annehmen ... ;)


    Inhaltlich ist die Kritik (sicher aus der Madhyamaka-Schule stammend) wenig fundiert, was wohl mit etwas Polemik kaschiert werden soll. Grundsätzlich sind solche Texte eher 'Merkverse', die vor allem als Grundlage ausführlicher Kommentierung dienten (wie etwa die MMK auch). Mit einem vierzeiligen Vers (konkret 28) z.B. die trisvabhāva - Lehre zu demontieren, ist schon etwas viel verlangt. Für Argumente ist da nicht viel Raum ...


    Prof. Lindtner beschreibt das BV als einen "regrettably neglected text" (bedauerlicherweise vernachlässigten Text) - auch diese Einschätzung Prof. Lindtners teile ich nicht.

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  • Danke dir für die fundierte Einschätzung zu der Frage der Autorschaft.

    Inhaltlich ist die Kritik (sicher aus der Madhyamaka-Schule stammend) wenig fundiert, was wohl mit etwas Polemik kaschiert werden soll. Grundsätzlich sind solche Texte eher 'Merkverse', die vor allem als Grundlage ausführlicher Kommentierung dienten (wie etwa die MMK auch).

    Gibt es denn auch andere Textsorten in der klassischen buddhistischen Literatur, die eher argumentativ verfahren? Also sind das dann eher die Kommentare zu den in Versen verfassten Werken? Also verstehe ich das richtig, die Mūlamadhyamakakārikā ist auch eher eine Sammlung von Merkversen?


    Aber unabhängig von der Frage der Autorschaft ist für mich der Raum der Auseinandersetzung interessant zwischen einer objektiv idealistischen Weltsicht und einer Sicht der Leerheit, deren Aussage ich aus den wenigen Versen und mit meinem begrenzten Vorwissen nicht so ganz erschließen kann.

    Werder Leerheit noch Geist kann ungeschaffen sein, denn sie werden vom Verstand geschaffen.

    Das klingt auch in Vers 28 an, oder?

    Zitat

    Das Benannte, das Abhängige

    und das Vollständige:

    Ihre Essenz ist einzig die der Leerheit,

    ihre Wesensart wird vom Bewusstsein erstellt.

    Wobei ich mich frage, ob mit "Essenz" und "Wesensart" hier zwei verschiedene Dinge gemeint sind oder dasselbe. Das hieße dann bei der ersten Lesart. dass die Leerheit vom Bewusstsein geschaffen wird.

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Zitat

    Das Benannte, das Abhängige

    und das Vollständige:

    Ihre Essenz ist einzig die der Leerheit,

    ihre Wesensart wird vom Bewusstsein erstellt.

    Wobei ich mich frage, ob mit "Essenz" und "Wesensart" hier zwei verschiedene Dinge gemeint sind oder dasselbe. Das hieße dann bei der ersten Lesart. dass die Leerheit vom Bewusstsein geschaffen wird.

    Dieser Vers 28 beschreibt einen wesentlichen Pfeiler der Cittamatra-Philosophie, nämlich die Drei Merkmale.


    Das sind das Benannte,

    das Abhängige

    das Vollständige.


    Diese Drei Merkmale sind eine vollständige Einteilung aller Phänomene. Es gibt kein Phänomen, das nicht in eine dieser drei Kategorien gehört. Darüber hinaus sagen die Cittamatrin auch, dass man an jedem einzelnen Phänomen diese Drei Merkmale feststellen kann.


    Wenn in der dritten Zeile von Leerheit gesprochen wird, dann geht es um die Leerheit wie sie die Cittamatrin definieren und diese Definition unterscheidet sich von den Definitionen der Madhyamikas.


    Die Cittamatrin sagen, das wahrnehmende Bewusstsein und das von dem Bewusstsein wahrgenommene Objekt sind keine verschiedenen Entitäten, weil sie miteinander zusammenhängen. Das drücken sie mit der Formulierung, dass es keine äußeren Objekte gibt aus.


    Die letzte Zeile drückt den Zusammenhang zwischen Objekt und Subjekt aus: Beide entstehen nach Auffassung der Cittamatrins aus einer gemeinsamen Quelle, nämlich einem karmischen Potenzial. Wenn ein karmisches Potenzial heranreift, dann entstehen gleichzeitig ein Wahrnehmungsobjekt und ein Bewusstsein, das dieses Objekt erfasst.


    Dieser Vers ist also noch keine Kritik an der Cittamatrin-Philosophie, sondern beschreibt nur kurz und knapp einen wesentlichen Aspekt ihrer Philosophie.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Ich zitiere mal Lindtners Übersetzung:

    Zitat

    [The three natures] - the imagined, the dependent, and the absolute -

    have only one nature of their own: śūnyatā.

    They are the imaginations of mind.

    Meines Erachtens bezieht sich das "imaginations" auf die drei Naturen, nicht auf śūnyatā.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Die letzte Zeile bezieht sich natürlich auf die drei Naturen und erklärt deren Leerheit aus Sicht der Cittamatrins.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Eine Frage, die ich mir beim Lesen des Threads gestellt habe: Wäre nicht Monismus eine zutreffende Bezeichnung des buddhistischen Standpunkts in der Frage der Dualität von Körper und Geist?

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    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Eine Frage, die ich mir beim Lesen des Threads gestellt habe: Wäre nicht Monismus eine zutreffende Bezeichnung des buddhistischen Standpunkts in der Frage der Dualität von Körper und Geist?

    Ich finde es nicht sehr hilfreich, westliche philosophische Kategorien einfach auf den Buddha-Dharma zu übertragen.


    Worin besteht denn für dich das, was du den buddhistischen Standpunkt in der Frage der Dualität von Körper und Geist nennst?

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Microsoft Word - Bodhicittavivarana_1.doc - nagarjuna_bodhicittavivarana_verses.pdf

    aus dieser Quelle übersetzt.


    26.

    Nach Vijhanavada (Bewusstseinslehre) ist diese mannigfaltige Welt nachweislich

    bloßes Bewusstsein. Was die Natur dieses Bewusstseins sein

    könnte, werden wir jetzt analysieren.

    27.

    Die Lehre des Muni (Buddha), dass „die gesamte Welt bloßer Geist ist“,

    soll die Ängste der Weltmenschen beseitigen.

    Es ist keine Lehre über die Realität.

    28.

    Die drei Naturen -die eingebildete, die abhängige und die absolute -

    haben nur eine eigene Natur: sunyata.

    Sie sind die Vorstellungen des Geistes.

    29.

    Den Bodhisattvas, die sich am Mahayana erfreuen, vermitteln die Buddhas

    in kurzen Worten die Selbstlosigkeit und Gleichheit aller Phänomene und die Lehre, dass der Geist ursprünglich ungeboren ist.

    30.

    Die Yogacarins geben dem Geist an sich die Oberhand.

    Sie behaupten, dass der durch eine Transformation gereinigte Geist

    zum Objekt seines eigenen spezifischen Wissens wird.

    31.

    Aber der Geist der Vergangenheit existiert nicht, während

    der Geist der Zukunft nirgendwo zu finden ist.

    Und wie kann der gegenwärtige Geist von Ort zu Ort wechseln?

    32.

    Das alayavijnana (Speicherbewusstsein) erscheint nicht so, wie es ist.

    Wie es erscheint - so ist es nicht. Diesem Bewusstsein fehlt es im

    Wesentlichen an Substanz(Dinghaftigkeit); es hat keine andere Grundlage

    als die Substanzlosigkeit.

  • Über das Leib-Seele (oder Körper-Geist)Problem zerbricht sich die (westliche) Philosophie ja seit über 2000 Jahren den Kopf ohne zu einer Lösung des Problems gekommen zu sein. Ich gehe davon aus, dass es im Buddhismus ungeachtet der vielen unterschiedlichen Schulen eine Tendenz in dieser Frage gibt. Man wird da sicher nicht den einen Standpunkt, aber vielleicht ja einige maßgebliche Ansichten der wichtigsten Schulen zu dieser Frage ausmachen können.

    Inwieweit der Monismus als Etikettierung einer philosophischen Position bzw. metaphysisches Grundprinzip jetzt eine westliche Erfindung darstelllt kann man diskutieren. Die Position bzw. das Prinzip scheint mir doch eher universeller Natur zu sein.

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    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

    Einmal editiert, zuletzt von Mabli ()

  • Das einzig Universelle ist der Körper, der Geist hat nur die Welten des nicht universellen.

    Der Geist ist nicht einmal wie der Wind, der Wind ist immerhin Luft.

  • Der Buddhismus ist kein Idealismus. Aber es gibt in der buddhistischen Philosophie idealistische Strömungen. Die Philosophie der Cittamatrin ist durchaus idealistisch. Andere Strömungen der buddhistischen Philosophie wie zum Beispiel die Lehrmeinung der Madhyamikas ist eigentlich nicht idealistisch.


    Der Buddhismus ist aber nicht nur Philosophie, sondern auch Psychologie, Lebensführung und Meditation, Geistesschulung usw. Auch deshalb kann man meines Erachtens nicht sagen, Buddhismus ist Idealismus.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Zunächst mal stimme ich Helmut grundsätzlich zu, wobei ich allerdings einen interkulturellen Zugang speziell zum philosophischen Aspekt des Buddhadharma als nützlich ansehe. Das kann, gerade wenn man akkulturierend (also als 'Westler') den Buddhadharma annimmt, das Verständnis des ersten Pfadaspektes (samyagdṛṣṭi / sammā diṭṭhi) erleichtern und vertiefen. Wobei ich hier pro domo spreche - als jemand, der den Zugang zum Buddhadharma über Schopenhauer gefunden hat.


    Und natürlich gibt es parallele Denkfiguren - schließlich sind wir bei allen kulturellen Unterschieden alle dieselben Superaffen und ticken entsprechend ähnlich. Madhyamaka und Skeptizismus / Pyrrhonismus sind durchaus verwandt, der frühe Buddhismus kann als eine dem neuzeitlichen (ab Locke, insbes. Hume) Sensualismus verwandte Form des Denkens/Argumentierens gesehen werden. Das Yogacara als ein absoluter Idealismus. Die Tathāgatagarbha - Lehre des Śrīmālādevī Siṃhanāda Sūtra als monistisch usw. usf. Muss man nicht alles kennen und wissen, kann aber bei Verständnisproblemen bestimmter Aspekte bei manchen Menschen (sicher nicht bei allen) durchaus hilfreich sein.


    Ich will das gar nicht überbewerten - wie schon geschrieben geht es hier nur um einen von acht Aspekten des Buddhadharma.

    Zitat

    Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.

    (J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre)

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