Über das Mitgefühl und die soziale Verantwortung im Buddhismus.

  • Lieber Igor07 ,


    habe nochmal einige Zitate von dir zusammengefasst, um dazu einige Gedanken mitzuteilen und danke für dein Engagement in dieser Sache - man spürt, dass dir dieses Thema ein Herzensanliegen ist... _()_ :heart:

    Klar, wir können nicht überall auf der Welt den Krieg beenden. Das ist nicht möglich.

    Aber wir können eine klare Haltung einnehmen.

    "Wir" (Buddhisten) stehen ja allgemein für eine Haltung von Friedfertigkeit/ Ahimsa/Gewaltlosigkeit und das 1. von 5 Sila (welche auch Teil des edlen achtfachen Pfades sind) legt nahe, dass z.B. Töten - auch für den "guten Zweck" - zumindest für Praktizierende, keine Option sein kann.

    (Anderslautende Äußerungen würden die Öffentlichkeit wohl ziemlich irritieren, weil deren Bild von Buddhisten nicht kompatibel mit solchen Ansinnen wäre... :?)


    Denn in dem Moment, wo angenommen/gedacht wird, dass ein Krieg wiederum nur durch kriegerische Handlungen (Töten) beendet werden kann (ab diesem Zeitpunkt rollt die "Lawine" schon an, es folgen Aufrufe und schließlich die konsequenten (Un-)Taten....), ist es vorbei mit "friedlicher Gesinnung"...


    Wenn wir nicht schweigen, sehe ich das schon als Fortschritt. Oder?

    Ja, da bin ich ganz bei dir, das Leiden sollte angesprochen, bezeugt werden - so finden sich ggf. Gleichgesinnte zusammen, die - im Rahmen der Möglichkeiten - Hilfe leisten können.

    Aber was und wie es gesagt wird, kann über Erfolg/Misserfolg entscheiden....

    es geht um eine klare Positionierung. Davon spricht doch Bhikkhu Bodhi, und genau das macht den engagierten Buddhismus aus.

    Diese "klare Positionierung" kann ja nur die der Friedfertigkeit, der Liebe und des Mitgefühls (gemäß der Buddha-Lehre für Opfer UND Täter!) sein, worin sich Buddhisten ja stetig üben (sollten)...


    Ansporn für transformatives Handeln

    Von mitfühlenden Gedanken über entsprechendes (rechtes) Reden bis zum Handeln dauert es manchmal länger, weil sich rechtes Handeln oft - u.a aufgrund der Komplexität vieler Missstände - als schwierig und daher diskussionswürdig erweist.


    (Siehe Dispute um Waffenlieferungen an die Ukraine...)



    Das folgende, von dir zitierte Buddhawort - NACH seinem Erwachen -,

    hat mich immer schon etwas irritiert,


    Zitat

    ..." Wenn ich das Dhamma lehren würde, würden andere mich nicht verstehen, und das wäre ermüdend und beschwerlich für mich." .....


    https://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m026z.html

    weil offensichtlich das SELBSTmitgefühl, des Buddhas anfangs über dem Mitgefühl mit den Leidenden stand, bzw. rationale Gründe/Erwägungen ("Sie werden es nicht verstehen..") seinen Willen, sich aktiv und helfend zu engagieren, blockierten...


    Erst durch "göttlichen Beistand" Brahma Sahampatis wurde der Blickwinkel des Buddhas verändert und sein (wohl vorhandenes, aber überdecktes ) Mitgefühl für die leidenden Wesen (neu) erweckt/entwickelt...

    (Man könnte diese "göttliche Eingebung" vielleicht als sein "Gewissen" interpretieren, was sich in ihm meldete?...)


    Das Mitgefühl als "göttliche Verweilstätte" ("Brahmavihara") scheint demnach nicht das Wesentliche im Erwachensprozess zu sein, sondern stellt eine zusätzliche Errungenschaft dar, die zum Vorschein kommen mag, aber nicht zwangsläufig "muss"....


    Der Weg zum Erwachen erweckt auch zunehmend das Mitgefühl.

    Ja, günstigenfalls, wenn es - z.B. wie im tibet. Buddhismus* - einen hohen Stellenwert genießt und durch die Praxis geübt, entwickelt/entfaltet wird, aber manchmal besteht auch die Gefahr, dass Unerschütterlichkeit und Gleichmut im Vordergrund stehen und von Anderen eher als Gleichgültigkeit erlebt werden. (siehe Udana I.8.)


    *(https://de.dalailama.com/messa…d-human-values/compassion)



    Das Ideal der "tätigen Nächstenliebe" findet man vordringlich in der jüdisch-christlichen Religion, wie beispielsweise das folgende Zitat, das Franz von Assisi zugeschrieben wird:

    Zitat

    "Tue den Mund auf für die Stummen und führe die Sache derer, die verlassen sind."



    Liebe Grüße, Anna :) :heart: _()_

    "...Dieser edle achtfache Pfad aber ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg..." (AN.VI.63)


    "In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist, mit dem Fluss des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig." (H.Hesse)

    Einmal editiert, zuletzt von Anna Panna-Sati ()

  • "an die sozialen Strukturen heran" , dies lässt sich nur mit politischem Engagement umsetzen, es scheint mir unrealistisch die 4 brahmaviharas je so politisch zu verwirklichen, dass es mehr sind als "Tropfen auf dem heißen Steine".

    Aber vielleicht ist dieses scheinbare Minimum, trotzdem schon eine große Leistung, angesichts des unermesslichen dukkhas dieser Existenz.

    Das kommt mir in den Sinn: Dukkha ist wirklich unermesslich. Und was lese ich im Gelübde des Bodhisattva?


    Zitat

    Die Zahl der Wesen ist unendlich; ich gelobe, sie alle zu erlösen

    Gier, Hass und Unwissenheit entstehen unaufhörlich; ich gelobe, sie zu überwinden

    Die Tore des Dharmas sind zahllos; ich gelobe, sie alle zu durchschreiten

    Der Weg des Buddha ist unvergleichlich; ich gelobe, ihn zu verwirklichen


    Bodhisattva-Gelübde im chinesisch-japanischen Mahayana




    Hm ... wie soll ein einzelner Mensch alle Lebewesen retten können? Schließlich sind sie zahllos.

    Das klingt tatsächlich paradox.

    Aber – wenn nicht ich, wenn nicht jeder Einzelne von uns – wer dann?

    In diesem Sinne: Steter Tropfen höhlt den Stein.

    Und er wirkt – ganz gewiss – mit der Zeit.

    Früher oder später. Oder? :?

    Ein Leben ohne Selbsterforschung verdiente gar nicht gelebt zu werden.

    Sokrates

  • Railex


    Ich wollte mit den beiden Teilen Persönlichkeit und Soziales darauf verweisen, dass es darum geht beides zu sehen und dass auch beides zusammen wirkt - wenn ich einerseits bei mir selbst beginne, beginne ich immer auch bei der Gesellschaft, denn ich bin eine soziale Wirklichkeit.


    Und was die Tropfen auf die heißen Steine anbetrifft, so sehe ich das als eine Stetigkeit, die immer wieder getan werden muss und niemals zu Ende ist, wie das Leben selbst.

    :zen:



  • Igor07,

    vielleicht lässt sich unermessliches dennoch überwinden.


    Bodhicitta zu entwickeln, kultivieren und anzuwenden, scheint mir dieses transformative Handeln zu fördern und darzustellen.


    Und wie Anna Panna-Sati erwähnte, die geistige klare Positionierung/Ausrichtung in Mitgefühl ist doch eine buddhistische Selbstverständlichkeit, wenn ich mir jeden Morgen bewusst mache, dass alle fühlenden Lebewesen im Leiden (und) durch das Gesetz von Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind.

  • Ich würde das mit dem "alle Lebewesen " nicht zu wörtlich nehmen, es geht vielleicht um die grundsätzliche Bereitschaft/Ausrichtung/rechte Gesinnung und ja genau jeder Einzelne, würde ich auch sagen.


    Steter Tropfen hölt den Stein, bzw. heilsame Ausrichtung, mehrt heilsame Taten, (hab da noch Lehrreden im Sinn, wo Buddha darauf eingeht).


    Danke Leonie für die Erklärung, hab zu kompliziert interpretiert und der Begriff "soziale Wirklichkeit " ist auch wichtig _()_

  • Ich würde das mit dem "alle Lebewesen " nicht zu wörtlich nehmen, es geht vielleicht um die grundsätzliche Bereitschaft/Ausrichtung/rechte Gesinnung und ja genau jeder Einzelne, würde ich auch sagen.

    Railex , ich weiß nicht, ob es wörtlich gemeint ist oder allegorisch. Aber so, wie es Masao Abe versteht, haben wir das Nirwana eigentlich niemals verlassen – obwohl wir alle weiterhin im Samsara leben. Das ist die paradoxe Logik des Mahayana: Es vermischt die absolute und die relative Ebene. Aber das ist bestimmt nicht meine Schuld.

    Doch eines sage ich dir, und da bin ich mir absolut sicher: Wenn ich hungernde Kinder sehe oder verwundete Menschen im Krieg – egal wo –, dann blutet mein Herz, weil ich es nicht verhindern kann. Das ist alles.


    Zitat

    Wahre

    Selbstlosigkeit und wahres Erbarmen können nur verwirklicht werden, indem man das

    Nirvana transzendiert und mitten ins Leiden der sich ewig wandelnden Welt zurückkehrt, um

    in ihr zu wirken." "Das Nirvana im mahayanistischen Sinn transzendiert zwar das Samsara, es

    ist aber nichts anderes als die Verwirklichung von Samsara als Samsara - nicht mehr und nicht

    weniger. Und dies ist nur dadurch möglich, daß man vollkommen ins Samsara zurückkehrt.

    Aus diesem Grund heißt es im Mahayana vom wahren Nirvana oft, "Samsara-wie-es-Ist ist

    Nirvana".

  • Ich würde das mit dem "alle Lebewesen " nicht zu wörtlich nehmen, es geht vielleicht um die grundsätzliche Bereitschaft/Ausrichtung/rechte Gesinnung und ja genau jeder Einzelne, würde ich auch sagen.

    Meine Einteilung geht so: Lebewesen, fühlende Lebewesen, Mensch, Person, Persönlichkeit.


    Der Rückweg zum Erkennen ist so klar zu erkennen, ohne das die Persönlichkeit vernichtet werden muss, nur auf das Wissen gebracht wird, dass diese auch nur eine Person, ein fühlendes Lebewesen, ein Lebewesen ist. Besonders, individuell, aber eben nichts Besonderes.


    Eine Persönlichkeit, die sich als nur Lebewesen erkennt, kann alle Aneignungen erkennen und sich jederzeit davon befreien oder sie ergreifen und die Rolle spielen, die jetzt gebraucht wird.

    Quintessenz: jedes Lebewesen ist den Daseinsmerkmalen unausweichlich ausgeliefert.

    Die eine Lehre des Buddha.

  • Jedes Lebewesen ist den Daseinsmerkmalen unausweichlich ausgeliefert.

    Von den Viren bis zum Menschen.

    Die erste Aneignung der Lebewesen ist das Fühlen.

    Die erste Aneignung der fühlenden Lebewesen ist das Ich-sein-Lebewesen.

    Die erste Aneignung des Ich-sein-Lebewesens ist Person, Ich bin/Ich habe.

    Die erste Aneignung der Person ist Persönlichkeit, Ich unterscheide mich von allen anderen Personen.


    Hab übersehen, dass fühlende Lebewesen kein Ich erkennen. Mit dem Ich-sein-Lebewesen erscheint Bewusstsein als Formung, atta, vorher ist es Bewusstsein ohne Form, anatta.


  • Der Weg zum Erwachen erweckt auch zunehmend das Mitgefühl.

    Ja, günstigenfalls, wenn es - z.B. wie im tibet. Buddhismus* - einen hohen Stellenwert genießt und durch die Praxis geübt, entwickelt/entfaltet wird, aber manchmal besteht auch die Gefahr, dass Unerschütterlichkeit und Gleichmut im Vordergrund stehen und von Anderen eher als Gleichgültigkeit erlebt werden. (siehe Udana I.8.)


    *(https://de.dalailama.com/messa…d-human-values/compassion)

    Nur ein paar Gedanken dazu:


    Was Leid bedeutet, weiß man weil man es selber erfährt. Weil man selber nicht leiden will, ist klar dass andere auch nicht leiden wollen und so hängt das Mitgefühl mit sich selber mit dem Mitgefühl für alle Wesen zusammen.


    Der achtfache Pfad läutert das Herz, man freut sich nicht wenn jemand leidet und sei es der schlimmste Feind und es ist einem auch nicht egal.

    Man muss sich aber auch selber helfen. Man wird Hungernden nicht lange Nahrung spenden können, wenn man selber nichts isst und man kann anderen den Weg zur Befreiung von allen Leiden nicht effektiv vermitteln, wenn man ihn selber nicht geht.

    Zitat
    • 'Ich werde auf mich achten', so sind die Pfeiler [Grundlagen] der Achtsamkeit (satipatthāna), ihr Mönche, zu pflegen:
    • 'Auf den anderen werde ich achten, so sind die Pfeiler [Grundlagen] der Achtsamkeit zu pflegen.
    • Auf sich selber achtend, ihr Mönche, achtet man auf die anderen.
    • Auf die anderen achtend, achtet man auf sich selber.

    Und wie, ihr Mönche, achtet man, auf sich selber achtend, auf den anderen?

    • Durch Pflege, durch Entfaltung, durch häufiges Tun.

    So, ihr Mönche, achtet man, auf sich selber achtend, auf den anderen.


    Und wie, ihr Mönche, achtet man, auf den anderen achtend, auf sich selber?

    • Durch Geduld (khanti),
    • durch Gewaltlosigkeit (avihiṃsā),
    • durch Liebe (mettacitta),
    • durch [An-]Teilnahme (anudaya).

    So, ihr Mönche, achtet man, auf den anderen achtend, auf sich selber.


    Sedaka Sutta


    Demnach wäre darauf zu achten, bei tätiger Nächstenliebe die Achtsamkeit nicht zu verlieren. Da dürfte der Gleichmut bzw. innere Loslösung eine Rolle spielen, man erwartet sich nichts.

  • Ich würde das mit dem "alle Lebewesen " nicht zu wörtlich nehmen, es geht vielleicht um die grundsätzliche Bereitschaft/Ausrichtung/rechte Gesinnung und ja genau jeder Einzelne, würde ich auch sagen.

    Railex , ich weiß nicht, ob es wörtlich gemeint ist oder allegorisch. Aber so, wie es Masao Abe versteht, haben wir das Nirwana eigentlich niemals verlassen – obwohl wir alle weiterhin im Samsara leben. Das ist die paradoxe Logik des Mahayana: Es vermischt die absolute und die relative Ebene. Aber das ist bestimmt nicht meine Schuld.

    Doch eines sage ich dir, und da bin ich mir absolut sicher: Wenn ich hungernde Kinder sehe oder verwundete Menschen im Krieg – egal wo –, dann blutet mein Herz, weil ich es nicht verhindern kann. Das ist alles.

    Igor07, nicht verhindern, leider,aber eben weil uns das Leiden der Menschen so unmittelbar anspricht und ergreift, ist m.E. in Punkt "Mitgefühl " und ethisches Verhalten, keine komplizierte theoretische Debatte und Begründung notwendig, um helfend aktiv zu werden.

    Die unmittelbare Praxis, mindert das Leiden konkret für mich und andere, das reicht als Begründung und Motivation doch völligst aus.

  • Achtsamkeit: Töte nie bewusst ein Lebewesen, auch wenn es noch so klein ist, denn das wäre eine schwere Missachtung des Wunders des Lebens.


    Nimm lieber die Stiche einer Mücke hin, denn sie möchte nur überleben aber Dir kein Leid antun.


    :heart:

    Einmal editiert, zuletzt von Egoillusion ()