Säkularer Buddhismus - Was ist das?

  • Kusala:

    [
    ich wollte jetzt erst einmal den "Säkularer Buddhismus" nicht bewerten, sondern zum besseren Verständnis einfache Fragen beantwortet haben. Wer kann das besser als diejenigen die es praktizieren.


    Wie praktiziert man "säkularen Buddhismus" - ?

  • Merkur-Uranus:
    Aiko:


    Gibt es für derart achtlose hingeworfene Kommentare auch eine stichhaltige Begründung?


    Ja - die liefere ich aber nicht hier. Du kannst dich aber schon mal kritisch mit Wilber befassen.

  • Doris Rasevic-Benz:
    Zitat

    Säkularer Buddhismus – was soll das sein, was soll das werden?


    Wir meinen, dass Siddharta Gotama durch seine Reden ein Rad angestoßen hat, dessen Bewegung uns heute noch mittragen kann.


    Ausgangspunkt und Zentrum zugleich sind seine Worte über den Umgang mit Schmerz. Buddha sagte: In jedem Menschenleben gibt es Dinge, die tun weh. Lasst sie gelten und nehmt sie an. Nur wenn ihr mit dem Schmerz lebt, könnt ihr mit Freude leben. Dies gehört zum „Buddhistischen“ bei uns.


    Aha.Wann und Wo soll das gesagt worden sein?


    Viele Grüße
    Elliot

    Viele Grüße

    Elliot

  • Lieber Elliot,


    das ist die Prämisse von Dukkha – das sind die Dinge die weh tun, leidvoll sind.
    Sie annehmen, Dukkha zu erkennen, bedeutet damit aufhören, die Dinge nicht so zu nehmen wie sie sind und stets was anderes zu wollen, den Vorstellungen über Wohl und Wehe weiterhin auf den Leim zu gehen. Das ist nämlich die Grundvoraussetzung um Dukkha zu perpetuieren.
    Erst wenn das losgelassen werden kann, wird Dukkha beendet und es wird Platz für "höchste Freude" geschaffen.
    Ich bin mir sicher, dass Du geeignete Stellen aus dem Pali-Kanon dazu finden wirst.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Doris Rasevic-Benz:

    Ich bin mir sicher, dass Du geeignete Stellen aus dem Pali-Kanon dazu finden wirst. Liebe Grüße Doris


    Meist du z.B. diese?
    "Gleichwie etwa, ihr Mönche, wenn man eine Kürbisflasche da hätte, mit Gift versetzt, und es käme ein Mann herbei, der leben, nicht sterben will, der Wohlsein wünscht und Wehe verabscheut, und man spräche also zu ihm: 'Lieber Mann, diese Kürbisflasche ist mit Gift versetzt: wenn du willst, so trinke. Aber dieser Trank wird dir nicht behagen, weder an Farbe noch an Geruch und Geschmack, und nach dem Genusse wirst du sterben oder tödliche Schmerzen erleiden.' Doch unbesonnen tränke er ihn, wiese ihn nicht zurück. Und der Trank behagte ihm weder an Farbe noch an Geruch und Geschmack, und nachdem er ihn getrunken, stürbe er oder erlitte tödliche Schmerzen: - Dem zu vergleichen, sag' ich, ihr Mönche, ist eine Lebensführung, die gegenwärtiges Wehe sowie künftiges Wehe bringt. " M 46

  • Doris Rasevic-Benz:

    Wir meinen, dass Siddharta Gotama durch seine Reden ein Rad angestoßen hat, dessen Bewegung uns heute noch mittragen kann.


    Ausgangspunkt und Zentrum zugleich sind seine Worte über den Umgang mit Schmerz. Buddha sagte: In jedem Menschenleben gibt es Dinge, die tun weh. Lasst sie gelten und nehmt sie an. Nur wenn ihr mit dem Schmerz lebt, könnt ihr mit Freude leben. Dies gehört zum „Buddhistischen“ bei uns.



    Das Zentrum der überlieferten Lehre ist halt nicht, mit Freude zu leben.

  • Zitat

    Das Zentrum der überlieferten Lehre ist halt nicht, mit Freude zu leben.


    Wenn das so wäre, dann täte es mir furchtbar leid für die Betroffenen.


    Übrigens sehe ich die Meister und Meisterinnen niemals tranig herumhocken. Ihre Fröhlichkeit, Heiterkeit und Lebensfreude ist ansteckend.
    Und wenn ich mir manche Sutren so ansehe, und wenn das tatsächlich dem Herrn Gautama nicht nur in den Mund gelegt worden ist, dann hatte der Mann einen unbändigen Humor. Tranigkeit ist übrigens abschreckend. Freude hingegen bewirkt, dass sich Menschen um einen scharen und einem zuhören und folgen.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Zitat

    Säkularer Buddhismus – was soll das sein, was soll das werden?


    Wir meinen, dass Siddharta Gotama durch seine Reden ein Rad angestoßen hat, dessen Bewegung uns heute noch mittragen kann.


    Ausgangspunkt und Zentrum zugleich sind seine Worte über den Umgang mit Schmerz. Buddha sagte: In jedem Menschenleben gibt es Dinge, die tun weh. Lasst sie gelten und nehmt sie an. Nur wenn ihr mit dem Schmerz lebt, könnt ihr mit Freude leben. Dies gehört zum „Buddhistischen“ bei uns.


    Meiner Ansicht nach ist das eine überaus inkonsequente Deutung der Vier Edlen Wahrheiten (der 4 Grundannahmen). Buddha sagte dort nicht "lasst es gelten und nehmt es an und lebt mit dem Schmerz", sondern: Schmerz/Dukkha (wobei darunter sehr viel mehr als nur die Dinge gemeint sind, die weh tun) hat eine Ursache, diese kann beseitigt werden, und es gibt einen Weg um diese zu beseitigen. Ganz klar und deutlich. Was ist daran säkular oder religiös? Würde man die Behandlung einer Krankheit etwa als säkular oder religiös bezeichnen, ich glaube man würde sie eher als Therapie bezeichnen.


    Liebe Grüße.

    Kein "Ich" - keine Probleme.

  • mukti:


    Das Zentrum der überlieferten Lehre ist halt nicht, mit Freude zu leben.


    .....aber auch nicht mit Schmerzen,
    so mitten drin halt 8)


    hedin

  • Simo:


    Meiner Ansicht nach ist das eine überaus inkonsequente Deutung der Vier Edlen Wahrheiten (der 4 Grundannahmen). Buddha sagte dort nicht "lasst es gelten und nehmt es an und lebt mit dem Schmerz", sondern: Schmerz/Dukkha (wobei darunter sehr viel mehr als nur die Dinge gemeint sind, die weh tun) hat eine Ursache, diese kann beseitigt werden, und es gibt einen Weg um diese zu beseitigen. Ganz klar und deutlich. Was ist daran säkular oder religiös? Würde man die Behandlung einer Krankheit etwa als säkular oder religiös bezeichnen, ich glaube man würde sie eher als Therapie bezeichnen.


    Der populäre Buddhismus ist eben der Ansicht, dass dukkha unheilbar ist. Schlißelich kannst du ja nichts gegen das Alter und Sterben machen. Außer eine Kreuzfahrt :grinsen:

  • Doris Rasevic-Benz:

    Übrigens sehe ich die Meister und Meisterinnen niemals tranig herumhocken. Ihre Fröhlichkeit, Heiterkeit und Lebensfreude ist ansteckend. Und wenn ich mir manche Sutren so ansehe, und wenn das tatsächlich dem Herrn Gautama nicht nur in den Mund gelegt worden ist, dann hatte der Mann einen unbändigen Humor. Tranigkeit ist übrigens abschreckend. Freude hingegen bewirkt, dass sich Menschen um einen scharen und einem zuhören und folgen.


    Da bin ich wieder ganz bei Dir, liebe Doris ! Freude heißt auch Freude beim Praktizieren und auch Mitfreude. Ich freue mich für Dich wenn Du genauso glücklich bist bei deiner Art zu Praktizieren wie ich mit der Vajrayana - Praxis :)

  • Lieber Simo,


    ich schrieb doch schon weiter oben, das Erkennen und das Annehmen, dass es Leid gib und dies nicht zu ändern ist, überwindet Dukkha. Dukkha erlischt, sobald wir den Wunsch aufgeben, dieses Leben möge anders sein als es ist. Das ist Beenden der Gier, des Haben-Wollens, des ständigen Wunsches nach was anderem …
    Hier ist Schmerz. Punkt. Mehr braucht es nicht, um Dukkha zu überwinden. Denn es ensteht im Geist, durch die Haltung, durch den Glauben, es würde Bestand haben und hätte eine Substanz. Das ist doch ganz einfach und klar. Es ist aussichtslos sich gegen Schmerz zu wehren, wir entkommen ihm nicht. Wir können nur unsere Einstellung dazu ändern.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Simo:

    Würde man die Behandlung einer Krankheit etwa als säkular oder religiös bezeichnen, ich glaube man würde sie eher als Therapie bezeichnen.


    Die Therapie nach Buddhas Lehre ist leider nicht für jeden immer unmittelbar erkennbar.
    Gier, Hass und Verblendung sind die Ursachen des Leides.
    Diese zu beseitigen wäre die Lösung.
    Bei Gier und Hass mag es noch relativ leicht verständlich sein.
    Die Beseitigung von "Verblendung" bedeutet jedoch Weisheit entwickeln, im Sinne
    einer Erkenntnis der Leerheit. Letzteres ist nicht einfach.


  • Schon, aber es ist nicht das Ziel, nicht der zentrale Teil, ein Leben in Freude zu verbringen. Das ist das Ziel im säkularen, weltlichen Buddhismus. Der überweltliche Pfad führt zur Aufhebung des Daseins, zu Nibbana.


    Schöne Grüße

  • mukti:

    ein Leben in Freude zu verbringen.


    Ohne Freude kein Fortschritt lieber mukti.


    mukti:

    Der überweltliche Pfad führt zur Aufhebung des Daseins, zu Nibbana.


    Und meinste was das dann erst für ne Freude ist. :D
    (Es gibt auch Freude ohne Sinnesgier.)


    ()

  • Kusala:
    mukti:


    Und meinste was dann erst für ne Freude ist. :D
    (Es gibt auch Freude ohne Sinnesgier.)


    ()


    Das hat aber nichts mit Gefühl zu tun.


    Liebe Grüße

  • Doris Rasevic-Benz:

    Lieber Simo,


    ich schrieb doch schon weiter oben, das Erkennen und das Annehmen, dass es Leid gib und dies nicht zu ändern ist, überwindet Dukkha. Dukkha erlischt, sobald wir den Wunsch aufgeben, dieses Leben möge anders sein als es ist. Das ist Beenden der Gier, des Haben-Wollens, des ständigen Wunsches nach was anderem …
    Hier ist Schmerz. Punkt. Mehr braucht es nicht, um Dukkha zu überwinden. Denn es ensteht im Geist, durch die Haltung, durch den Glauben, es würde Bestand haben und hätte eine Substanz. Das ist doch ganz einfach und klar. Es ist aussichtslos sich gegen Schmerz zu wehren, wir entkommen ihm nicht. Wir können nur unsere Einstellung dazu ändern.


    Liebe Grüße
    Doris


    Liebe Doris,


    der Buddha sprach aber nicht nur von Schmerz (körperlich und geistig) als Dukkha, sondern auch von ganz anderen Dingen. Er unterschied drei Arten von Dukkha: Das Leid des Schmerzes (dukkhadukkhata), das Leiden der Vergänglichkeit (viparinamadukkhata) und das Leid des Bedingtseins (samskaradukkhata), die von zunehmender Subtilität sind. Die Akzeptanz von Leiden ist nicht gleichbedeutend mit dem Aufheben des Leidens. Wenn ich eine Krankheit habe (um das Beispiel noch einmal zu bemühen), dann muss ich sie natürlich ersteinmal akzeptieren und aufheben mich dagegen zu wehren, denn Wiederstand gegen das Leid erzeigt zusätzliches Leid. Aber allein dadurch wird die Krankheit nicht verschwinden.


    Zitat

    Denn es ensteht im Geist, durch die Haltung, durch den Glauben, es würde Bestand haben und hätte eine Substanz.


    Damit sprichst du aber nicht Gier, als die Ursache des Leides an, sondern Unwissenheit, welche die Ursache der Gier ist und somit die eigentliche Ursache von Dukkha. Unwissenheit wird allerdings nicht überwunden indem man sie einfach akzeptiert und als unausweichlich erachtet, was im übrigen eine Fehlannahme ist, denn sie ist überwindbar, und damit auch Leiden.


    Liebe Grüße.

    Kein "Ich" - keine Probleme.

    Einmal editiert, zuletzt von Simo ()

  • Liebe Doris,

    Doris Rasevic-Benz:

    ... Ich bin mir sicher, dass Du geeignete Stellen aus dem Pali-Kanon dazu finden wirst.


    Kann ich mich nicht erinnern, jemals so etwas im Palikanon gelesen haben. Da steht stattdessen:


    Zitat

    "Und was, Freunde, ist die Edle Wahrheit vom Ursprung von Dukkha? Es ist das Begehren, das erneutes Werden bringt, das von Ergötzen und Begierde begleitet ist, und das sich an diesem und jenem ergötzt; nämlich Begehren nach Sinnesintensität, Begehren nach ewigem Wiederwerden und Begehren nach Vernichtung mit dem Tod. Dies wird die Edle Wahrheit vom Ursprung von Dukkha genannt."


    (MN 141)


    Viele Grüße
    Elliot

    Viele Grüße

    Elliot

  • Eben, lieber Elliott. Auch das Begehren, es möge kein Leid sein, ist ein Begehren, das aufgegeben werden muss. Kein Sträuben mehr gegen das Unvermeidbare, z.B. Krankheit und Tod, Verlust.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Lieber Simo,


    natürlich verschwindet die Krankheit nicht. Aber Du wirst eher damit klar kommen, dem Unvermeidlichen der Krankheit nicht noch was drüberstülpen. Denn das ist Dukkha. Hast Du denn noch nie gesehen, wie ein glücklicher Kranker ist? Wie er strahlen kann, trotz der körperlichen Qualen und eine große Zufriedenheit ausstrahlt? Hast Du noch nie die Berichte der Ärzte gelesen, als der 16. Karmapa im Krankenhaus lag und starb? Auch seine Krankheit war schmerzvoll und tödlich. Aber er scheint zufrieden gewesen zu sein.


    Unwissenheit und Gier kann ich persönlich nicht trennen. Sie bedingen sich meiner Erfahrung nach.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Doris Rasevic-Benz:

    Eben, lieber Elliott. Auch das Begehren, es möge kein Leid sein, ist ein Begehren, das aufgegeben werden muss. Kein Sträuben mehr gegen das Unvermeidbare, z.B. Krankheit und Tod, Verlust.


    Liebe Grüße
    Doris


    Genauso wie das Begehren nach einem Leben in Freude, welches, nach eben jener Theorie der Unvermeidbarkeit von Leid, eine Unmöglichkeit darstellt.


    Liebe Grüße.

    Kein "Ich" - keine Probleme.


  • Natürlich liebe Doris. Was ich allerdings oben versucht habe aufzuzeigen ist, dass diese Definition von Dukkha zu eng ist, und Dukkha nicht im vollen Sinne der Lehre des Buddha erfasst.


    Liebe Grüße.

    Kein "Ich" - keine Probleme.


  • Eben. Und Freude muss man nicht hinterher jagen. Sie ist Bestandteil des Lebens und kommt von alleine – und geht auch wieder – und kommt wieder.
    Aber wir wissen ja, dass alle Lebewesen glücklich sein wollen. Der Dharma zeigt uns, wo wir eine verlässliche Quelle des Glücks finden. Er sagt nix von Nicht-mehr-glücklich-sein.


    Zitat

    Was ich allerdings oben versucht habe aufzuzeigen ist, dass diese Definition von Dukkha zu eng ist, und Dukkha nicht im vollen Sinne der Lehre des Buddha erfasst.


    Das verstehe ich nicht. Kannst Du mir das näher erläutern.


    Liebe Grüße
    Doris

    Der Sinn des Lebens besteht darin, Rudolph, dem Schwurkel, den Schnabel zu kraulen.

  • Simo:


    Meiner Ansicht nach ist das eine überaus inkonsequente Deutung der Vier Edlen Wahrheiten (der 4 Grundannahmen).
    Liebe Grüße.


    "Wenn irgendein Glaubenssatz als grundlegend für Buddhas Lehre betrachtet werden kann, dann dürften es die vier edlen Wahrheiten sein, wie sie in der Ersten Lehrrede formuliert worden sind, von der angenommen wird, dass sie im Wildpark bei Isipatana (Sarnath) verkündet worden ist, nicht lange nach seinem Erwachen in Uruvelā (Bodh Gaya). Doch wenn wir den Text in der Fassung lesen, in der er uns überliefert wurde (es gibt siebzehn Versionen in Pali, Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch), erscheint er auf den ersten Blick fest in der Erlösungslehre des Buddhismus 1.0 verwurzelt zu sein. Das Leiden in Form von Geburt, Krankheit, Altern und Tod (die erste edle Wahrheit) hat seinen Ursprung im Verlangen (die zweite edle Wahrheit). Nur wenn dieses Verlangen durch die Erfahrung von nibbāna (die dritte edle Wahrheit) zu einem Halt gebracht werden kann, wird das Leiden, das durch Verlangen verursacht wird, gleichfalls zu einem Ende kommen. Und der einzige Weg, diese endgültige Befreiung vom Leiden zu verwirklichen, besteht darin, dem edlen achtfachen Pfad zu folgen (die vierte edle Wahrheit). Das Ende vom Leiden ist deshalb nur zu erreichen, indem das Verlangen beendet wird, welches das Rad der Wiedergeburt antreibt. In der Tat verkündet der Buddha gegen Ende der Rede, dass «dies die letzte Geburt» sei. So lange man in dieser Welt als verkörpertes Lebewesen verbleibt, ist das Höchste, das man erreichen kann, eine gewisse Linderung des Leidens. Denn, damit Leiden tatsächlich aufhört, muss man den Prozess der Wiedergeburt überhaupt anhalten.


    Eine solche Lesart der Lehrrede würde anscheinend wenig Raum für eine säkulare Auslegung des Textes übrig lassen, wenn überhaupt. Denn diese Welt der Geburt, Krankheit, Altern und Tod, welche unser saeculum ausmacht, ist genau das, was notwendigerweise zu einem Ende gebracht werden muss, wenn wir jemals echte Erlösung oder Befreiung erreichen wollen. Orthodoxer Buddhismus zeigt sich hier im Grunde der indischen asketischen Tradition verpflichtet, die das Leben in dieser Welt als etwas betrachtet, das jenseits von Erlösung ist und dem entsagt werden soll. Der wichtigste Wert der menschlichen Existenz besteht darin, dass sie im Ablauf der unendlichen Runde der Wiedergeburten den günstigsten Zustand darstellt, um geboren zu werden, weil sie eben die besten Bedingungen bietet, der Wiedergeburt überhaupt zu entfliehen. Und das ist nicht nur die Sicht des «Hinayana»-Buddhismus. Die «Mahayana»-Traditionen sagen genau das gleiche, der einzige Unterschied besteht darin, dass der mitfühlende Bodhisattva so lange auf seine oder ihre endgültige Befreiung von der Wiedergeburt verzichtet, bis nicht zuerst auch alle anderen fühlenden Wesen sie erreicht haben.


    Dennoch, bei genauerer Analyse dieser Lehrrede treten gewisse Ungereimtheiten in der Struktur des Textes zu Tage. Die Erste Lehrrede kann nicht als wortwörtliche Niederschrift von dem, was der Buddha im Wildpark lehrte, behandelt werden, sondern als ein Dokument, das sich über eine unbestimmte Zeit entwickelt hat, bis es die Form erreichte, in der es heute in den Kanons der verschiedenen buddhistischen Schulen vorgefunden wird. An diesem Punkt kommt uns die moderne, historisch-kritische Wissenschaft zu Hilfe, als ein Mittel, einige der altehrwürdigen Ansichten buddhistischer Orthodoxie zu erschüttern.


    6.


    Der britische Philologe K.R. Norman ist einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der «Mittleren Indo-Ᾱryan Prakrits», d.h. der gesprochenen Sprachen (Prakrits), die aus dem Sanskrit abgeleitet sind, und die nach der klassischen Periode und vor der Neuzeit in Indien verwendet wurden. Zu diesen gehört Pali, die Sprache, in der die Lehrreden, welche dem Buddha zugeschrieben werden, in der Theravada-Schule erhalten sind. In einer aus 1992 stammenden Arbeit unter dem Titel «The Four Nobles Thruths» bietet Norman eine detaillierte philologische Analyse der Ersten Lehrrede an und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass «die früheste Fassung dieses Sutta das Wort ariya-saccaṃ (edle Wahrheit) nicht enthalte» (Norman 2003: 223). Aus grammatikalischen und syntaktischen Überlegungen zeigt er auf, wie der Ausdruck «edle Wahrheit» unfachmännisch zu einem späteren Zeitpunkt als dem der ursprünglichen Abfassung in den Text interpoliert worden war. Aber weil kein solcher Originaltext bis auf unsere Tage überliefert ist, können wir nicht wissen, was er wirklich aussagte. Alles was vernünftigerweise gefolgert werden kann, ist, dass statt der Rede von vier edlen Wahrheiten, der Text lediglich von «vier» sprach.


    Der Begriff «Edle Wahrheit» wird so sehr als selbstverständlich angenommen, dass wir seinen polemischen, sektiererischen und arroganten Ton gar nicht bemerken. Alle Religionen behaupten, dass das, was sie und nur sie allein lehren, sowohl «edel» als auch «wahr» ist. Dies ist die Art von Rhetorik, wie sie im Religionsgeschäft verwendet wird. Man kann sich leicht vorstellen, wie im Laufe der Jahrhunderte nach Buddhas Tod seine Anhänger, im Laufe des Sich-gegenseitig-übertrumpfen-Wollens der konkurrierenden Sekten im alten Indien, zunehmend überhöhte Ansprüche bezüglich der Überlegenheit der Doktrinen ihres Lehrers machten, was in der Einführung des Ausdrucks «edle Wahrheit» resultierte, um das Dharma zu privilegieren und von dem, was ihre Mitstreiter lehrten, zu unterscheiden.


    Eine Implikation von Norman’s Entdeckung ist, dass der Buddha sich möglicherweise überhaupt nicht mit Fragen der «Wahrheit» beschäftigt hat. Sein Erwachen dürfte wenig damit zu tun gehabt haben, eine wahrhaftige Erkenntnis der «Realität» zu gewinnen, oder ein privilegiertes Verständnis darüber, wie die Dinge wirklich sind. Zahlreiche Passagen im Kanon bezeugen, wie sehr der Buddha sich weigerte, die großen metaphysischen Fragen anzusprechen: Ist die Welt ewig, nicht ewig, endlich, unendlich? Sind Körper und Geist dasselbe oder unterschiedlich? Gibt es eine Existenz nach dem Tod, oder nicht, oder keines von beiden, oder beides?2 Statt sich in solchen Diskussionen zu verlieren, bestand er darauf, einen therapeutischen und pragmatischen Weg zu enthüllen, welcher die Kernfrage des menschlichen Leidens betraf. Er erkannte, dass man endlos über die Wahrheit oder Falschheit von metaphysischen Behauptungen diskutieren könnte, ohne jemals zu einer endgültige Entscheidung zu gelangen, und darüber versäumen würde, mit der weit dringenderen Angelegenheit der eigenen Geburt und des Todes, sowie der der anderen, klarzukommen.


    Sobald die verführerische Vorstellung von «Wahrheit» den Diskurs des Dharma zu durchdringen beginnt, entsteht die Gefahr, dass der pragmatische Schwerpunkt der Lehre durch spekulative Metaphysik ersetzt wird, und Erwachen wird so als das Erreichen eines inneren Geisteszustandes gesehen, der irgendwie mit einer objektiven metaphysischen «Realität» übereinstimmt. Diese Tendenz wird dann noch ausgeprägter, wenn «Wahrheit» weiter qualifiziert wird, entweder als eine «absolute» (paramattha) oder als eine nur «relative» (samutti) Wahrheit. Obwohl diese Zwei-Wahrheiten-Lehre von zentraler Bedeutung für das Denken aller buddhistischen Orthodoxien ist, kommen die Begriffe «absolute Wahrheit» und «relative Wahrheit»nicht ein einziges Mal im den Sutta oder Vinaya Pitakas (Körbe) des Pali Kanons vor. Doch für die meisten buddhistischen Schulen – einschliesslich des Theravada – wird Erleuchtung heute als das Gewinnen eines direkten Einblicks in die Natur irgendeiner ultimativen Wahrheit verstanden.


    Dieses Privilegieren von «Wahrheit», würde ich sagen, ist einer der wichtigsten Indikatoren dafür, wie der Dharma allmählich von einer befreienden Praxis des Erwachens in das religiöse Glaubenssystem namens Buddhismus transformiert wurde.


    7.


    Öffne ein einführendes Buch über Buddhismus und du wirst üblicherweise auf den ersten paar Seiten eine Aufzählung der vier edlen Wahrheiten finden. Ausnahmslos werden sie in der Form von vier Aussagen vorgestellt werden, ungefähr wie folgt:


    1. Leben ist Leiden.


    2. Ursprung des Leidens ist Verlangen.


    3. Beendigung von Leiden ist nibbāna.


    4. Der edle achtfache Pfad ist der Weg, der zur Beendigung des Leidens führt.


    Genau durch die Art und Weise, in der diese Information meistens vorgestellt wird, wird der Leser herausgefordert zu überlegen, ob diese Aussagen wahr oder falsch sind. Am Anbeginn jeden Engagements für das Dharma erfährt man sich selber als Spieler des Sprachspiels «Auf der Suche nach der Wahrheit». Die unausgesprochene Annahme besteht darin, dass du dann qualifiziert bist, ein Buddhist zu sein, wenn du glaubst, dass diese Aussagen wahr sind, während du es nicht bist, wenn du sie als falsch erachtest. So wird man stillschweigend aufgefordert, den nächsten Schritt zu tun und eine Unterscheidung zwischen «Gläubiger» und «Ungläubiger» zu bekräftigen, d.h. zwischen denen, die den Zugang zur Wahrheit erlangt, und denen, die ihn nicht erreicht haben. Dies führt die Art von Trennung ein, die letztendlich ebenso zu kultischer Solidarität führen kann als auch zu Hass gegen andere, die nicht die eigenen Ansichten zu teilen. «[W]enn das Wort Wahrheit geäußert wird», bemerkte der italienische Philosoph Gianni Vattimo, «dann wird auch ein Schatten von Gewalt geworfen».3 Aber, falls Mr. Norman Recht hat, dann dürfte der Buddha seine Ideen überhaupt nicht im Sinne von «Wahrheit» dargelegt haben.


    Jede dieser Aussagen ist ein metaphysisches Statement, in seiner Art nicht unterschieden von «Gott ist die Liebe», «Schöpfung entsteht durch den Odem des Einen», «Glückseligkeit ist ewige Verbindung mit Brahman», oder «Du kommst zum Vater nur durch mich». Vielleicht wegen der eher psychologisch klingenden und nicht-deistischen Begriffswelt des Buddhismus (ganz zu schweigen von der weit verbreiteten Überzeugung, Buddhismus sei «rational» und «wissenschaftlich») mag man die offensichtlich metaphysische Natur der Behauptungen der vier edlen Wahrheiten nicht bemerken, bis man beginnt, sie entweder zu beweisen oder zu widerlegen.


    «Verlangen ist die Ursache von Leiden». Wie ist dann Verlangen die Ursache von Alter? Wie soll Verlangen die Ursache der Schmerzen eines Babys sein, das mit zystischer Fibrose geboren wurde? Wie ist Verlangen die Ursache dafür, in einem Unfall von einem Lastwagen überfahren zu werden? Ich habe festgestellt, dass heutige buddhistische Lehrer, die sich vielleicht mit der Metaphysik von kamma und Wiedergeburt nicht so wohl fühlen, oft versuchen werden, dies psychologisch zu erklären. «Verlangen ist natürlich nicht die Ursache von physischem Schmerz des Alters oder des zerquetscht Werdens unter den Rädern eines 3,5 Tonnen schweren Fahrzeuges», werden sie sagen. «Aber es ist durch das Verlangen, diese Dinge mögen nicht passieren, und durch das Unvermögen, das Leben so zu akzeptieren, wie es uns begegnet, dass wir uns selber unnötigen mentalen Kummer bereiten, zusätzlich zum physischen Schmerz.» Es ist offensichtlich, dass wir uns selbst oft auf diese Weise unnötigen seelischen Schmerz bereiten, und eine Anzahl von Passagen im Pali Kanon kann zitiert werden, um solch eine Lesart zu stützen. Doch wenn der Buddha in der Ersten Lehrrede erklärt, was er unter dukkha versteht, dann beschreibt er es nicht als «unnötigen seelischen Schmerz», sondern als Geburt, Krankheit, Alter und Tod, sowie die «fünf Bündel des Anhaftens» selbst. In anderen Worten: die Gesamtheit unserer existenziellen Situation in dieser Welt. Wenn wir den Text so nehmen, wie er dasteht, dann ist die einzige vernünftige Interpretation der Aussage «Verlangen ist die Ursache von Leiden» die traditionelle: Verlangen ist die Ursache von Leiden, weil Verlangen das ist, was verursacht, dass man sich Taten hingibt, die dazu führen, dass man geboren, krank und alt wird und stirbt. Aber natürlich ist dies Metaphysik: eine Wahrheitsbehauptung, die weder überzeugend bewiesen noch widerlegt werden kann.


    In meinem Buch Buddhismus für Ungläubige (1997) habe auch ich den Fehler begangen, dukkha im Sinne von Verlangen zu interpretieren, welches dieses verursachen soll. Ich überlegte, wenn dukkha von Verlangen herrührt, dann muss es sich auf den seelischen Schmerz beziehen, der durch den Griff des Verlangens erzeugt wird. Deshalb übersetzte ich dukkha als «seelischen Schmerz» [in der deutschen Übersetzung des Buches wurde das englische Wort «anguish» mit «Angst» übersetzt, was den Übersetzern dieses Textes aber als besonders unpassend erscheint]. Ungeachtet dessen, ob Verlangen solchen seelischen Schmerz hervorruft oder nicht, das ist nicht wie dukkha in der Ersten Lehrrede dargelegt wird. Als ein Ergebnis dieser Art Interpretation wird dukkha als ein rein subjektives Problem gesehen werden, das durch korrekte Anwendung der Techniken von Achtsamkeit und Meditation «gelöst» werden kann. Denn dukkha ist genau dasjenige Leiden, dass unnötigerweise zu den unausweichlichen Schmerzen und Frustrationen des Lebens hinzugefügt wird. Diese psychologische Lesart dreht die Praxis des Dharmas zusehends nach innen, weg von der Sorge um ein allgegenwärtiges dukkha des Lebens und der Welt, hin zu einer exklusiven, sogar narzisstischen Angelegenheit mit subjektiven Gefühlen von Mangel und Kummer.


    8.


    Der Begriff «Wahrheit» ist so sehr in unserem Diskurs über Religion verankert, und wird weiter noch verstärkt durch die dem Buddhismus eigene Darstellung der Lehre, dass man es schwierig, sogar bedrohlich, finden könnte, zu «verlernen», (nur) in dieser Weise über das Dharma zu denken und zu sprechen. Doch dieses Verlernen ist genau das, was getan werden muss, wenn wir den Übergang von einem glaubens-basierten Buddhismus (Version 1.0) zu einem praxis-basierten Buddhismus (Version 2.0) unternehmen wollen. Wir müssen uns bis zu dem Punkt trainieren, an dem unsere erste Reaktion beim Hören oder Lesen eines Textes aus dem Kanon nicht mehr «ist das wahr?», sondern «funktioniert das?» ist.


    Gleichzeitig müssen wir auch eine kritische Analyse der Texte selbst unternehmen, um, so gut wir aus dieser zeitlichen Entfernung noch können, die zentralen Begriffe und narrativen Strategien zu entdecken, die eine bestimmte Passage oder Lehrrede prägen. Wenn wir die Worte «edle Wahrheit» aus dem Satz «vier edle Wahrheiten» subtrahieren, bleibt bloß das Wort «vier» übrig. Und die knappste Formulierung der vier, die überall in den buddhistischen Traditionen gefunden wird, ist folgende:


    Leiden (dukkha)
    Entstehen (samudaya)
    Aufhören (nirodha)
    Weg (magga)


    Sobald der Satz des Epithetons «edle Wahrheit» beraubt und nicht mehr in behauptender Sprache formuliert wird, gelangen wir zu den vier Grundpfeilern, auf denen sowohl Buddhismus 1.0 als auch Buddhismus 2.0 aufgebaut sind. Genau so wie es vier Nukleobasen (Cytosin, Guanin, Adenin und Thymin) gibt, aus denen DNS, die Nukleinsäure zusammengebaut ist, welche die genetischen Informationen für alle lebenden Organismen enthalten, so könnte man sagen, dass «Leiden», «Entstehen», «Aufhören» und «Pfad» die vier Nukleobasen sind, die das Dharma, den Korpus an instruktiven Ideen, Werten und Praktiken ausmachen, die alle Spielarten des Buddhismus entstehen lassen." Stephen Batchelor


    http://www.saekularerbuddhismus.org/?page_id=1251