Die Sicht des Lamaismus werde ich anhand der Lehren des Dalai Lamas und seines Schülers Thubten Ngawang wiedergeben.
Die Kategorie der Vier Siegel gibt es nicht im Theravāda. Vergleichbar ist die Kategorie der Drei Merkmale (tilakkhaṇa), die sich ableitet aus folgender, im Palikanon immer wieder vorkommenden, Lehrdarlegung:
Alles anzeigen„Ist Bewusstsein beständig oder unbeständig?“ - „Unbeständig, Herr.“
„Aber wenn es unbeständig ist, ist es Leiden oder Glück?“ - „Leiden, Herr.“
„Aber wenn es unbeständig und Leiden ist und zugrunde gehen muss, kann man es dann so ansehen:
‚Das ist mein, das bin ich, das ist mein Selbst‘?“ - „Nein, Herr.“
Die Vier Siegel nach dem Samādhirāja Sūtra (siehe Dalai Lama (2018): The Foundation of Buddhist Practice) sind:
- all conditioned phenomena are transient,
- all polluted phenomena are duḥkha (unsatisfactory) in nature,
- all phenomena are empty and selfless, and
- nirvāṇa is true peace.
Oder bei Thubten Ngawang auf Deutsch:
Thubten Ngawang (1996): Die vier Siegel des buddhistischen Lehre:Diese Vier Siegel, auf denen alle Erklärungen im Buddhismus basieren, lauten:
Alle Produkte sind unbeständig.Alles Befleckte ist leidhaft.
Alle Phänomene sind leer und ohne Selbst.
Nirvāṇa, die Befreiung, ist Frieden, das endgültige Glück.
Wichtig ist hier die Beschreibung des Zweiten Siegels: Alles Befleckte ist leidhaft. Hieraus leiten sich zwei Fragen ab: (1) Ist alles, was vergänglich ist, auch befleckt und damit leidhaft oder (2) gibt es unbeständige Produkte, die nicht befleckt sind und damit auch nicht leidhaft?
Im obigen Auszug aus dem Anattalakkhaṇa-sutta stellen sich diese Fragen nicht. Dort leitet sich das Leiden unmittelbar aus der Unbeständigkeit der Dinge ab: wenn es unbeständig ist, ist es Leiden.
Thubten Ngawang erklärt:
„Im zweiten Siegel heißt es, daß alles Befleckte leidhaft, d.h. mit Leid verbunden ist. Alle Dinge, die wir erleben und die mit fehlerhaften Geisteszuständen wie Unwissenheit, Begierde etc. im Zusammenhang stehen, sind befleckter Natur und damit leidhaft“ {Thubten Ngawang 1996: ebenda: 4}.
Und beim Dalai Lama:
„Polluted phenomena are those produced under the control of ignorance and its latencies. Because all things in cyclic existence — including our body and mind — are polluted in this way, they are said to be duḥkha, unsatisfactory by nature” {Dalai Lama 2018: The Foundation of Buddhist Practice: 30}.
Also Dinge, die mit Unwissenheit verbunden sind, sind befleckt und leidhaft. Was ist zum Beispiel mit Buddhas Geist, der sicherlich frei von Unwissenheit ist. Hierzu sagt der Dalai Lama: „As a mind that apprehends different objects each moment, a buddha’s mind is impermanent” {Dalai Lama 2021: Courageous Compassion: 550}. Was folgt jetzt aus dieser Vergänglichkeit?
the early sūtras that comprise the Fundamental Vehicle teachings state that at the time of attaining parinirvāṇa when an arhat dies, that person attains “nirvāṇa without remainder.” At that time, the continuum of the polluted mental and physical aggregates are said to cease. However, if we analyze carefully, there is no reason why the continuum of an arhat’s mind would totally cease at the time of death. There is no agent or antidote that could bring about the cessation of a continuum of consciousness. {Dalai Lama 2017: Approaching the Buddhist Path: 201}
Der Geist eines Buddha oder Heiligen besteht nach seinem Tod, hier mit dem Begriff parinirvāṇa bezeichnet, also weiter. Wenn wir die Möglichkeit ausschließen, dass im Mahāyāna das Parinibbāṇa mit Leiden verbunden ist, dann folgt daraus, dass nicht alle unbeständigen Produkte auch befleckt und leidhaft sind. Der Lamaismus postuliert demnach eine leidfreie „Existenz“ außerhalb von saṃsāra:
As soon as that person eliminates ignorance, she no longer creates polluted actions that propel cyclic existence. Her cyclic existence ceases, and that person — that mere I — attains liberation. Gradually, she can also remove the cognitive obscurations that prevent omniscience, and when this is done, that mere I attains buddhahood, the state of full awakening or non-abiding nirvāṇa, in which the person abides neither in cyclic existence nor in the personal peace of an arhat’s nirvāṇa. {Dalai Lama 2018: The Foundation of Buddhist Practice: 36}
The five pure abodes are saṃsāric realms. These differ from both nirmāṇakāya (emanation body) pure lands — such as Amitābha Buddha’s pure land Sukhāvatī and Akṣobhya Buddha’s pure land Abhirati — and enjoyment body (saṃbhogakāya) pure lands, which are not saṃsāric realms. {Dalai Lama 2018: Saṃsāra, Nirvāṇa, and Buddha Nature: 89}
Zusammengefasst wird dies in folgender Aussage:
after a person attains parinirvāṇa — the nirvāṇa after death — the continuum of the purified aggregates exists. {Dalai Lama 2018: Saṃsāra, Nirvāṇa, and Buddha Nature: 39–40}
Hieraus folgend gibt es zwei mögliche Schlussfolgerungen:
- Die „Reinen Aggregate“ sind unbedingt und daher weder unbeständig noch leidhaft oder
- Die „Reinen Aggregate“ sind bedingt und unbeständig, aber nicht befleckt und daher nicht leidhaft.
Da ich nicht annehme, dass der Lamaismus Schlussfolgerung (1) lehrt, folgt daraus, dass das zweite Siegel – „alles Befleckte ist leidhaft“ – nur eine Untermenge der theravadischen Lehraussage „alle bedingten Dinge sind leidhaft“ ist. Aus diesem unterschiedlichen Verstehen von Leiden folgt, wie oben bereits gezeigt, ein anderes Verstehen vom Aufhören des Leidens, also nibbāṇa.
In seinem Lamrim macht der Dalai Lama folgende bemerkenswerte Aussagen:
changing the teachings of the Buddha that describe duḥkha, its origin, its cessation, and the path to nirvāṇa would alter the fundamental perspective and principles of the Buddhadharma, making it no longer the teachings of the Buddha. {Dalai Lama 2017: Approaching the Buddhist Path: 251}
It is better to remain a nonbeliever than to distort the Buddha’s teachings… Some so-called Buddhists are hypocrites. They present themselves as followers of Buddha Śākyamuni, but live and think differently than he did. {Dalai Lama 2021: Courageous Compassion: 203}
Der Dalai Lama hat es auf den Punkt gebracht, nehmen wir ihm beim Wort.
[Da meine Darstellung des Lamaismus befleckt, also fehlerhaft, sein könnte, habe ich im Tibet-Bereich einen Faden eröffnet, um dies ggf. dort zu diskutieren. Hier in diesem Faden sollten wir uns auf eine Diskussion den Theravada betreffend beschränken.]