Im Winter zu kalt, im Sommer zu warm. Also heizen im Winter und kühlen im Sommer. Soweit so gut. Wird es besser davon, dass es nun nicht mehr zu heiß und nicht mehr zu kalt ist. Klar, angenehmer auf jeden Fall – zumindest anfangs. Dann tritt die Gewöhnung ein und mit der Gewöhnung definiert sich der Bereich des Zumutbaren. Kann man im Winter Temperaturen von 18° Celsius in der Wohnung zumuten? Sind über 30° in der Wohnung im Sommer zumutbar?
Die Sensibilität steigt und damit rücken auch die Grenzen, jenseits derer es unangenehm wird, immer näher heran. Kälter als 21°, wärmer als 24°? Unzumutbar! Man versucht damit den Bereich zu zementieren, in dem kein unangenehmes Gefühl aufritt. Unangenehme Empfindungen müssen vermieden werden, mit dem Ergebnis, dass die Toleranz auch immer geringer wird und letztlich die gleichen unangenehmen Empfindungen auftauchen, nur bei wesentlich kleineren Abweichungen. Wäre man noch vor 70 Jahren froh gewesen, im Winter die Wohnung immer auf 18° heizen zu können, ist das heute schon die Grenze des Zumutbaren überhaupt.
Wenn ich mich von unangenehmen Empfindungen leiten lasse, und versuche, sie, wo es geht, zu vermeiden, werde ich immer unfreier – ein selbst geschaffenes Gefängnis. Lasse ich mich von dem Wunsch nach angenehmen Empfindungen leiten, geschieht das Gleiche. Meine Ansprüche an die Umwelt und meine Bedürftigkeit werden immer mehr steigen, sodass mich bald schon selbst kleine Einschränkungen mit Angst erfüllen – wie viel mehr erst, wenn wirklich Verzicht angesagt ist, wie derzeit und wohl auch verstärkt in der Zukunft, wenn Klimawandel und Artensterben ihren Tribut fordern.
Die Erste und die zweite edle Wahrheit beschreiben diesen Prozess. Die dritte und vierte edle Wahrheit zeigen einen Weg auf, widerständiger zu werden und einfach wieder etwas mehr auszuhalten. Das ist der Weg vom Dasein als Mangelwesen zu einem Leben in Freiheit und Reichtum. Freiheit, weil frei von dem Diktat angenehmer und unangenehmer Empfindungen, reich, weil Reichtum da beginnt, wo ich mehr mein Eigen nennen kann, als ich tatsächlich brauche. Wenn ich wenig brauche, beginnt dieser Bereich des Reichtums manchmal schon bei einem köstlichen Stück trockenen Brots.
ZitatEinst wurde der große Meister Dongshan von einem Mönchen in der Ausbildung gefragt: “Wie kann ich Hitze oder Kälte vermeiden?”
Dongshan sagte: “Warum gehst du nicht an einen Ort, wo es weder heiss noch kalt ist?”
Die Mönche fragten: “Wo ist dieser Ort, der weder Hitze noch Kälte kennt?”
Dongshan antwortete: “Wenn es heiß ist, werde eins mit der Hitze. Wenn es kalt ist, werde eins mit der Kälte. Das ist der Ort ohne Hitze oder Kälte.