Was macht also der endliche, sterbliche Guru, wenn er nun sich amoralisch verhält? Hat er das überhaupt nötig?
Ich glaube, dass Du hier den Kern der Unterscheidung zwischen amoralisch und unmoralisch missverstehst. Man kann sich in der Welt der Phänomene nicht amoralisch verhalten. Worauf die tantrische Praxis abzielt, ist die von Dir auch genannte Ebene der Nicht-Dualität erfahrbar zu machen.
wenn einer dies erkannt hat, wie das im Herzsutra ausgedrückt ist, braucht es den ganzen Firlefanz von Tantra oder Koan nicht
Eben, WENN einer dies erkannt hat. (Erkennen ist nicht das Gleiche wie logisch verstehen!) Nun dienen aber Tantra und Koan genau dazu, dies zu erkennen. Und manche Menschen können aus auf dem Weg am besten oder manchmal überhaupt nur so erkennen.
Wie ich schon an anderer Stelle sagte - eine Praxis, die einen Initiationsritus bietet und in Mysterien oder wie auch sonst welcher Art Riten einweist, führt zu merkwürdigen Verhaltensweisen bei den betreffenden Personen und solche Leute sind als Sekten geläufig, unterstehen aber auch dem bürgerlichen Gesetz.
Im Unterschied zwischen dem, was man hier als "Initiationsritus" bezeichnen würde, ist die tantrische Einweihung oder Einführung in die Natur des Geistes kein Ritus, der etwas Geheimes vermittelt. In Gegenteil, worum es geht wird sowohl im Essenz-Mahamudra als auch im Dzogchen offen beschrieben. Aber gerade weil es eine Erfahrungsebene ist, die, wie Du auch sagst, in der Welt der Phänomene verborgen bleibt, reicht das bloße Verstandes-Verständnis bei den meisten nicht aus.
Die Ethik der relativen Ebene wird aber als absolute Grundlage immer zuerst gelehrt. Oder sollte es zumindest. Und selbstverständlich muss man sich an die Gesetze halten.
Schwierig wird es erst, wenn man solche alten Traditionen an andere Kulturen anpassen muss, deren Moral- bzw. Ethikverständnis ein anderes ist. Man darf dann nicht vergessen, dass man auch die Lehre an diese Dinge anpassen muss. Und dieser Prozess der Anpassung ist auch eine gute Chance, tradierte Gewohnheiten neu zu hinterfragen. Darauf, was angemessen ist, darauf was überhaupt notwendig ist, um das eigentliche Ziel zu erreichen. Mag sein Naropa oder Milarepa hatten sehr spezielle Bedingungen und daher waren auch sehr ungewöhnliche Methoden notwendig. Und es ist sicherlich gut, die Effektivität dieser Methoden im Hinterkopf zu behalten. Aber das heisst nicht, dass jeder heutige Lehrer sich im Westen so verhalten muss oder darf, wie es Tilopa oder Marpa damals taten.