ZitatAlles anzeigenDie Gemüter der Pariser Theologen waren von der bekannten Streitfrage, wieviele Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz haben, sehr erregt. So entschloss sich der Dekan der Theologischen Fakultät im Jahre 1298 zu einem damals ungewöhnlichen Schritt. Er lud die drei sich streitenden Parteien am ersten Sonntag nach Trinitatis in die Aula der Pariser Universität ein. Er war dieses Streites müde.
„Wieviele Engel haben Ihrer Meinung nach Platz auf einer Nadelspitze?“, fragte er Le Varlin, den Vertreter der ersten Gruppe. „Kein einziger!“, antwortete dieser, „die ätherische Beschaffenheit dieser Wesen…“ – „Das wissen wir“, unterbrach ihn der Dekan und sah Grandgouch, den Sprecher der zweiten Gruppe an. „Was meinen Sie?“ – „Es passen natürlich 150 drauf. Wer sich nur ein wenig in den Schriften von Thomas von Aquin auskennt…“ – „Danke“, sagte der Dekan und wandte sich an Batteux, den Verfechter des dritten Standpunktes. „Wie jeder, der nur etwas Verstand hat, weiß, dass es unzählige sind. Diese immateriellen Geschöpfe können…“
„Gut“, sagte der Dekan laut, „ Nun kennen wir alle Ihre Meinungen. Jetzt passen Sie einmal auf.“ Er griff in seine Tasche und holte eine Nadel heraus. Diese steckte er mit ihrem stumpfen Ende in eine Tischspalte. Dann faltete er die Hände. Nach kurzer Zeit schwebten einige Engel in den Raum. Sie kreisten einige Momente über der Nadel, dann setze sich der erste Engel auf die Spitze, nach einigem Zögern folgte ihm ein zweiter und schließlich ein dritter. Ein vierter Engel versuchte es, rutschte aber ab und fiel auf die Tischplatte.
Nach einer Weile entfernten sich die Engel wieder.
„So“, sagte der Dekan, „ es sind also drei Engel. Keiner mehr und keiner weniger. Und deshalb kann der Streit wohl jetzt beendet werden.“
Die Sprecher der drei Parteien schwiegen einen Moment.
„Das waren sehr merkwürdige Engel.“, sagte Le Varlin schließlich.
„Sie waren viel zu groß!“, sagte Grandgouche
„Jeder, der nur etwas von Engeln versteht, „ sagte Batteux, „ wird wissen, dass dies keine waren, da ihre immaterielle Substanz es ermöglicht, dass unzählige von ihnen auf einer Nadelspitze Platz haben.“
„150“ sagte Grandgouche. – „Keiner“ sagte Le Varlin fest.
„Aber meine Herren“, rief der Dekan, „ es ist doch nun bewiesen…“ – „Bewiesen ist nur eines,“ sagten die drei Sprecher wie aus einem Munde, „ dass es keine Engel waren.“
Und da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben einig waren, gingen sie gleich zum Großinquisitor, dem der friedliebende Dekan schon lange ein Dorn im Auge war.
Und so gab es am zweiten Sonntag nach Trinitatis vor Notre Dame den wohl schönsten Scheiterhaufen, der dort je in Flammen aufging.
R. Gernhardt http://www.steine-in-der-dreieich.de/Dokumente/Gernhard.html