Warum sollte man Wissensklarheit praktizieren? Mir fallen sofort drei gute Gründe ein, und es gibt zweifellos darüber hinaus noch andere.
Erstens, jemand, der sich ständig gewahr ist, was er tut, wird es leichter finden, sein sìla einzuhalten. Wenn ein Mann, der hinter der Frau seines Nachbarn her ist, weiß, „ich bin hinter der Frau meines Nachbarn her”, wird er die Tatsache, dass er drauf und dran ist, die dritte Tugendregel zu brechen, nicht vor sich verbergen können und sich früher wieder auf die richtige Bahn bringen als der Mann, der hinter der Frau seines Nachbarn her ist, ohne zu betrachten, was er gerade tut. Kurz gesagt, Wissensklarheit führt zu einer selbstkritischen Haltung und somit zur Selbstverbesserung.
Zweitens, Wissensklarheit hat eine kühlende Wirkung und ist das genaue Gegenteil der Leidenschaften (entweder Gier oder Hass), die erhitzend wirken (dies steht nicht im Zusammenhang mit den mysteriösen Eigenschaften, die im orientalischen Essen stecken, dem Essen im Westen aber fehlen). Das bedeutet, jemand, der ständig Wissensklarheit praktiziert, hat eine machtvolle Kontrolle über seine Leidenschaften, so dass sie immer seltener entstehen.
Drittens, die Praxis von Wissensklarheit ist eine absolut notwendige Voraussetzung, um die Essenz der Buddhalehre zu verstehen. Der Grund dafür ist, dass es im Dhamma nicht um irgendeine Einzelerfahrung (Bewusstsein, Gefühl usw.) als solcher geht, sondern um Erleben (Bewusstsein, Gefühl usw.) im Allgemeinen. Wir brauchen den Buddha nicht, damit er uns sagt, wie wir irgendeinem bestimmten Erlebnis entkommen (sei es ein schlichter Kopfschmerz oder unheilbarer Krebs), aber wir brauchen den Buddha, damit er uns sagt, wie wir jeglichem Erleben entkommen. Im Normalzustand, wenn wir in unser Tun versunken sind (das heißt, im Nicht-Gewahrsein), geht es uns nur um dieses oder jenes bestimmte Erlebnis, diesen oder jenen Zustand, diese oder jene Angelegenheit („sie liebt mich; sie liebt mich nicht …”) und in keiner Weise um Erleben im Allgemeinen („Was ist die Natur der Emotion Liebe?”). Aber wenn wir uns gewahr werden, was wir tun (oder fühlen usw.), liegt der Fall anders. Obwohl wir weiterhin tun (oder fühlen), sind wir auch dabei, jenes Tun oder Fühlen mit einem gewissen Grad innerer Loslösung zu betrachten, und zu jener Zeit rückt die allgemeine Natur von „Tun” und „Fühlen” ins Blickfeld (das bestimmte Tun und Fühlen, das zufällig anwesend ist, erscheint als Beispiel für „Tun“ und „Fühlen“ im Allgemeinen); und genau dann, wenn diese allgemeine Natur der Dinge ins Blickfeld rückt, sind wir in der Lage, unter der Führung des Buddha, die universalen Merkmale von anicca, dukkha und anattá zu begreifen. Aber hier geraten wir in tiefes Wasser, und ich will ein Thema, das schon nicht sehr einfach ist, nicht noch zusätzlich schwierig gestalten.
Nanavira Thera - Brief vom 27.März 1962